Zuletzt aktualisiert am 8. Juli 2022 um 16:50
„Picasso hat ja auch nicht den Pinsel fallen lassen, als er 65 wurde“, sagt die Pädagogin Hannelore Besser (79), die sich seit vielen Jahren für Frauen, Kinder und Jugendliche in Schwellen- und Entwicklungsländern engagiert. Über den „Senior-Experten-Service“ (SES Bonn) gibt sie bis heute Fortbildungen für Lehrkräfte und Lernende in aller Welt. Ein Porträt. Dazu: Infos über die Ehrenamtsorganisation SES und ihre Teilnahmebedingungen.
Keine Aufgabe zu haben ist das Schlimmste. Einmal mehr wird es Hannelore Besser in Bolivien klar. Februar 2019: Zum dritten Mal ist die pensionierte Lehrerin und Schulleiterin für den SES in Bonn, den Senior-Experten-Service, im Einsatz. Ihr Auftrag diesmal: Lehrkräfte und Erzieher:innen in den Internaten der bolivianischen Nichtregierungsorganisation K’anchay fortzubilden. In vier Einrichtungen soll sie didaktische und methodische Anregungen weitergeben, ab und an auch selbst unterrichten. Die Internate befinden sich in den Bergen, teils auf 4000 Meter Höhe, weit weg von jeglicher städtischen Infrastruktur.
Sie ist in Qachari, der zweiten Station auf ihrer vierwöchigen Reise. Es herrscht Regenzeit. Nass, kalt und grau zeigt sich die Bergwelt draußen, und auch drinnen sucht sie Gemütlichkeit vergebens. Hannelore ist in einem Raum ohne Tisch und Stühle, dafür mit einem Stockbett samt durchgelegener Matratze auf dem Gelände des Internats untergebracht. Alte Gardinen hängen traurig vor den Fenstern, tote Fliegen zieren das Fensterbrett, es gibt weder eine Heizung noch Internetempfang. Das Schlimmste jedoch, das Allerschlimmste: Sie hat nichts zu tun. An einem Freitagvormittag hat man sie durch die zerklüfteten, dramatisch schönen Landschaften in die abgelegene Gemeinde gebracht, aber die Jugendlichen und die Lehrkräfte kehren erst am Sonntagabend aus den Ferien zurück. Erst nach drei „sinnlos vertrödelten“ Tagen füllt sich die Einrichtung mit Leben – und Hannelore fühlt sich nicht mehr fehl am Platz, ist endlich wieder von jungen Leuten umgeben, die ihre Rolle in der Gesellschaft suchen, die auf ihrem eigenen Weg die ersten Schritte gehen. In fast 55 Jahren hat sie dabei schon viele Jugendliche aus aller Welt ein kleines Stück begleitet.
(K)ein Zufall: Pädagogin auf dem zweiten Bildungsweg
Zur Jugendarbeit und zum Lehrberuf kam die 79-Jährige über Umwege.
1965, Hannelore ist 24 Jahre alt, gelernte Industriekauffrau und seit kurzem Mutter. Sie ist ihrem Mann an dessen Arbeitsort, die kleine Stadt Geesthacht in der Nähe von Hamburg, gefolgt. Hier zieht sie ihren Sohn groß, fühlt sich aber bald schon einsam und frustriert, vermisst den Austausch mit Freunden, die sie in ihrer Heimatstadt Lübeck zurückgelassen hat. Sie geht zum Gemeindebüro, will sich ehrenamtlich engagieren. Vielleicht Müttern, die krank sind, im Haushalt helfen? Vielleicht für alte Leute einkaufen, ihnen vorlesen? Nein, entgegnet ihr der Pastor, dafür brauche man niemanden. Aber es fehle jemand für die Jugendarbeit! Fortan betreut Hannelore ehrenamtlich zwei Jugendkreise, kümmert sich später auch fest angestellt um sozial benachteiligte Kinder. Und schließlich, 1970, nachdem sie zum zweiten Mal Mutter geworden ist, beginnt sie, Erziehungswissenschaften zu studieren.
So ist sie durch Zufall zur Pädagogik gekommen. Oder nicht? „Zufälle gibt es nicht. Es fällt zu, was fällig ist“, sagt sie.
Dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sie einmal um den ganzen Erdball führen wird, ahnt sie damals nicht. Dabei trägt Hannelore, von Freunden Hanna genannt, das Fernweh längst in sich. Schon viel früher hat die Neugier auf die Welt sie gepackt und nie mehr losgelassen: Mit 17 ist sie mit einer Freundin durch Frankreich getrampt, ihre Mutter hat geglaubt, sie besuche eine andere Freundin in Hamburg. Mit 19, gleich nach der Lehre, ist sie als Au-Pair nach Schweden gegangen, hat Schwedisch gelernt und eine „nordische Affinität“ entwickelt, die ihr bis heute geblieben ist.
Seit der Jugend zieht es die SES-Expertin hinaus in die Welt
Woher kam die Sehnsucht nach dem Anderswo, der Drang, aus dem Bekannten auszubrechen? „Das war die Enge in Lübeck, der Kaufmanns- und Senatorengeist der Stadt. Ich wollte was erleben, wollte wissen, was los ist in der Welt! Ich war auf eine gewisse Weise ‚eigen-willig’ und hatte den Mut, den eigenen Willen auch selbst zu verantworten.“ Eine große Rolle spielten zudem die Bücher ihrer Kindheit. Während ihres SES-Einsatzes in Bolivien denkt Hannelore häufig an die Abenteuergeschichten zurück, die sie gefesselt und ihren Entdeckergeist geweckt haben. In ihrem eigenen Buch „Einsatz in Bolivien: Als Seniorexpertin unterwegs“ erzählt sie davon so:
„Wo ist die Bibliothek?“, fragte ich. Man zeigte mir ein trauriges Verlies voller Staub und Spinnen. „Wer braucht Bücher, wenn er Kartoffeln und Mais und Zwiebeln hat?“, lautete die unausgesprochene Frage im Blick. Und wieder regten sich in mir Wut und Überheblichkeit. Ich hatte in den Hungerjahren nach dem Krieg wenigstens lesen können! Ich hatte gefroren und hatte Hunger, ja, aber mit Pippi hatte ich die doofen Polizisten besiegt, war mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn Tante Polly entwischt und hatte den Mississippi erkundet. Ach, was wäre meine Kindheit und Jugend ohne die Erzählungen, ohne die man keine Welt hat? Hier fand ich nur traurige Reste aussortierter Bücher.
Hannelore regt an, die Bibliotheken in den Internaten auf Vordermann zu bringen.
Von Beginn an sind Aufenthalte im Ausland eng mit ihrer Arbeit als Pädagogin verknüpft. Als sie in Geesthacht zum ersten Mal Jugendliche betreut, soll sie direkt einen deutsch-schwedischen Austausch organisieren – sie, die doch schon einmal als Au-Pair in Schweden gelebt hat! „In meiner Biografie fiel in dem Moment ein Dominostein“, schreibt sie in „Fünfzig Jahre Pubertät“, ihrem ersten Buch. Immer wieder wird es sie fortan in die Ferne ziehen.
1985, inzwischen ist sie geschieden und als Lehrerin in Berlin tätig, lässt sie sich vom Schuldienst beurlauben: Sie möchte promovieren, recherchiert in Peru zum Thema „Demokratisierung mit Hilfe des Schulsystems am Beispiel Peru“. Zwei Jahre lang arbeitet sie als Deutschlehrerin am Goethe-Insititut in Lima und bereist von dort aus den südamerikanischen Kontinent. „Damals kam das Backpacking in Mode“, erzählt Hannelore, „aber diese Art zu reisen hat mich nie interessiert. Ich wollte nicht nur an der Oberfläche kratzen.“ Sie findet einen Weg, wirklich mit Land und Leuten in Kontakt zu kommen: 1986 beginnt sie, sich für den Marie-Schlei-Verein zu engagieren, eine Nichtregierungsorganisation, die die Ausbildung von Frauen in Südamerika, Asien und Afrika fördert. Sie besucht Frauengruppen in Nicaragua, Chile, Peru, Argentinien, Bolivien, der Dominikanischen Republik, Ecuador und Uruguay. Bis heute ist sie für den Verein aktiv, beobachtet und evaluiert Projekte, die Frauen zur Eigenständigkeit verhelfen.
Nach ihrer Rückkehr aus Südamerika unterrichtet sie drei Jahre in einer Grundschule in Berlin, bevor sie 1990 promoviert wird und dann in Hitzacker zum ersten Mal den Posten als Schulleiterin antritt. Wieder ruft wenig später das Ausland: Acht Jahre lang leitet Hannelore die „Deutschen Schule Oslo – Max Tau“. Die Gegensätze, zwischen denen sie pendelt, wenn sie von Norwegen zu den Ausbildungsprojekten in Südamerika aufbricht, sind ihr immer bewusst: der Überfluss an Möglichkeiten in der einen, der Mangel an Perspektiven vor allem für Frauen in der anderen Welt.
Zurück in Deutschland arbeitet sie noch einmal als Schulleiterin in Buchholz in der Nordheide, bevor sie 2006 pensioniert wird. Und dann? Ruhe und Rückzug? Natürlich nicht. „Picasso hat ja auch nicht aufgehört zu malen, als er 65 war“, sagt sie. „Andere züchten Rosen, spielen Golf oder machen Kreuzfahrten. Ich mache Fortbildungen für Lehrer und Schüler in aller Welt.“
Ist Hannelore nicht im Ausland, kommt das Ausland zu ihr: Für das Goethe-Institut leitet sie Stipendiatenkurse für junge Deutschlerner:innen aus aller Herren Länder. Aber Freunde wissen längst: Hanna muss und wird aufbrechen, immer wieder aufbrechen. „Ich erkenne und ergreife einfach immer wieder zufällige Chancen“, meint sie. So ein „Zufall“ hat sie 2006 nach Ägypten geführt. Ein ehemaliger Kollege aus Norwegen hatte sie als Deutschlehrerin und Coach an die „Deutsche Schule der Borromäerinnen“ in Kairo vermittelt. Aus mehreren Einsätzen wurde eine Festanstellung, sie wechselte an die „Europaschule Kairo“ und verbrachte insgesamt drei Jahre in dem nordafrikanischen Land.
Senior-Experten-Service: Einsätze im Kosovo, in Bolivien und Nepal
2016 tut sich abermals eine Chance„ per Zufall“ auf: Ein Bekannter, mit dem sie schon einige Male zusammengearbeitet hat, wird vom SES Bonn für eine Lehrerfortbildung im Kosovo angefragt. Er ist jedoch verhindert – und ermutigt Hannelore, sich auf die Stelle zu bewerben. Vier Wochen lang dauert ihr erster Einsatz für den Senior-Experten-Service, drei weitere sind ihm bisher gefolgt. Außer in den Kosovo und nach Bolivien hat der SES sie 2017 und 2019 zweimal nach Kathmandu in Nepal entsandt, wo sie ebenfalls Lehrer:innen gecoacht hat.
„Der SES gibt mir die Möglichkeit, mein Fachwissen anzubringen“, sagt sie. Und was braucht es bei so einem Einsatz außer Fachwissen? „Vor allem Anpassungsfähigkeit. In einem Entwicklungsland kommt man immer wieder in unbequeme Situationen. Mit denen muss man umgehen können.“ Die unbeheizten Zimmer mit den durchgelegenen Matratzen in Bolivien sind dafür ein wunderbares Beispiel.
„Warum tust du dir das immer wieder an?“, fragen Freunde. Hannelore ist heute 79 Jahre alt und wer wissen will, wie es ihr geht, bekommt mit einiger Wahrscheinlichkeit das Folgende zur Antwort: „Ich wohne dem Zerfall meines Körpers bei.“ Sie sagt: „Mag der Körper auch gealtert sein, die Seele ist fünfunddreißig. Sie altert nicht.“ Noch immer hat sie Lust, etwas zu bewirken. Zum Beispiel im Hochland von Bolivien: Bis heute besuchen viel mehr Jungen als Mädchen die Sekundarschule, es sind die Mädchen, die den elterlichen Hof am Laufen halten und die Schafe hüten sollen. Vor allem ihnen will sie helfen, zu den eigenen Entscheidungen zu stehen. Mädchen wie Jungen wünschen sich „Teilhabe an dem, was als ‚modernes Leben’ bezeichnet wird“. Unweigerlich zieht es sie in die Städte, doch vielen fehlt ein konkreter Plan – und noch mehr ein Plan B. Hier will Hannelore helfen: Orientierung geben, andere Wege zeigen, vor Abgründen bewahren.
So macht sie weiter, immer weiter. In Bolivien, in Nepal oder anderswo. „Und sei es nur Eine oder Einer, der oder ich helfen kann, das Leben zu meistern.“
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Der Senior-Experten-Service (SES Bonn) im Überblick
Der SES mit Sitz in Bonn ist eine gemeinnützige Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit und die größte deutsche Entsendeorganisation für ehrenamtliche Fach- und Führungskräfte im Ruhestand oder in einer beruflichen Auszeit. Seit seiner Gründung im Jahr 1983 hat der SES mehr als 50.000 Einsätze in 160 Ländern, darunter auch vor Ort in Deutschland, durchgeführt.
„Zukunft braucht Erfahrung“, lautet der Slogan des SES. Die Idee: Fach- und Führungskräfte geben Kenntnisse aus ihrer langjährigen Berufstätigkeit möglichst nachhaltig (oberstes Prinzip: „Hilfe zur Selbsthilfe“) in Schwellen- und Entwicklungsländern weiter. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Förderung junger Menschen auf ihrem Weg in den Beruf. Bei Einsätzen in Deutschland setzen Senior-Experten und -Expertinnen sich dafür ein, dass sich die Chancen am Arbeitsmarkt für junge Leute verbessern. Sie machen sich für die Integrationshilfe in Schulen und gegen Ausbildungsabbrüche stark.
Wer kann SES-Experte werden?
Neben Rentner:innen werden Berufstätige gesucht, die sich während einer beruflichen Auszeit engagieren wollen. Möglich ist die Teilnahme am „Weltdienst 30+“, der „jungen Sparte“ des Senior-Experten-Service, ab einem Alter von 30 Jahren. Menschen aus allen beruflichen Branchen – Handwerk und Technik, Handel und Vertrieb, Bildung und Ausbildung, Gesundheit und Soziales, Wissenschaft und Verwaltung – können sich bewerben. Besonders gefragt sind zum Beispiel Bäcker:innen. Fremdsprachenkenntnisse und Auslandserfahrung sind von Vorteil. Im Vordergrund steht aber das Fachwissen, gegebenenfalls werden den Ehrenamtlichen Dolmetscher:innen an die Seite gestellt.
SES-Einsätze: Wie lange? Wohin? Gibt es eine Bezahlung?
Senior-Experten im Ausland sind im Schnitt vier bis sechs Wochen und maximal ein halbes Jahr im Einsatz. Folgeeinsätze sind möglich. Die meisten Einsatzländer liegen in Afrika, Asien, Lateinamerika, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in der Region Nahost/Nordafrika und in Zentralasien.
Die Einsätze laufen auf ehrenamtlicher Basis. Expert:innen erhalten aber eine Tagespauschale von 15 Euro. Die Registrierung in der SES-Datenbank ist kostenlos, auch im Einsatz entstehen keinerlei Kosten, weder für Transport noch Unterbringung.
Bewerbung beim Senior-Expert-Service und Kontakt
Interessierte können sich online auf den Seiten des SES registrieren und hier eine Auswahl offener Stellenangebote einsehen. Die Organisation ist deutschlandweit vertreten, in fast allen Bundesländern gibt es auch regionale Anspechpartner:innen. Die Kontaktadressen zum Senior-Experten-Service Berlin und allen anderen Regionalkoordinatoren sind in dieser Übersicht aufgelistet.
Weitere Erfahrungsberichte
Im Netz finden sich einige Erfahrungsberichte von SES-Experten, zum Beispiel hier auf spiegel.de. Auch die Sendung „W wie Wissen“ hat sich hier dem SES und seinen Ehrenamtler:innen gewidmet.
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Die Frau ist der absolute Wahnsinn! Alleine für diesen Satz „Zufälle gibt es nicht. Es fällt zu, was fällig ist“, gehört sie abgebusserlt… Danke für dieses tolle Porträt!
Dankeschön, freut mich!
Hallo Susanne, das war ein wirklich interessanter Beitrag. Habe vom SES noch nie gehört. Finde es echt interessant und werde es mir abspeichern. Man weiss ja nie, wozu man es noch brauchen kann.
Ich mir auch! Ich kann mir sehr gut vorstellen, mich da eines Tages anzumelden.
Wie spannend! Ich behalte das auch mal im Hinterkopf. Wer weiß, wann und wozu man solch einen Tipp zu so einer Organisation mal braucht …
Vielleicht selbst, um sich anzumelden und später auch solche Einsätze zu machen? :D
Tolle Frau, toller Artikel. Spornt an, lange gesund zu bleiben und sein Leben sinnvoll zu füllen. Ganz lieben Dank!
Einfach genial was diese Dame macht.
Hallo Susanne,
ich lebe in den USA und bin bei meiner Suche nach Stellenangeboten für DaF/DaZ Quereisteiger gerade zufällig auf deine tolle Webseite gestoßen. Ich unterrichte seit 2016 DaF/DaZ Erwachsenenkurse, davor habe ich als Übersetzerin gearbeitet. Der Artikel über den Senior Experten Service war sehr interessant. Ich wusste gar nicht, dass es das gibt. Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast so eine tolle, informative Website zu gestalten. Liebe Grüße aus Seattle, USA.
Liebe Sabine, vielen Dank für deinen Kommentar und viel Glück bei der Stellensuche!
Großartig!
Ich bewundere Sie!