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Jelenia Góra (Hirschberg): Eine persönliche Spurensuche

9. April 2025
Jelenia-Gora-Rathaus

Zuletzt aktualisiert am 14. April 2025 um 13:49

Oft wünschte ich, ich wüsste mehr über das Leben meiner Oma. Wie war ihre Kindheit, was genau hat sie erlebt, woran erinnert sie sich? Leider kann ich sie nicht mehr fragen. Doch eine Reise an ihren Geburtsort – die polnische Stadt Jelenia Góra, die früher „Hirschberg hieß, ­­ hat mich ihr ein wenig näher gebracht.


Kaum haben wir unsere Ferienwohnung nahe dem Marktplatz von Jelenia Góra bezogen, fangen sie an, die Straße zu sanieren. Genau unter unserem Fenster zertrümmert eine riesige Asphaltfräse den kaputten Belag, darunter kommt Kopfsteinpflaster zum Vorschein. Ob Oma als Kind wohl mal auf diesen alten Pflastersteinen entlanggelaufen ist?

Ich bin mit meiner Mutter nach Niederschlesien in Polen gereist, und auch wir wollen hier ein Stück Vergangenheit freilegen. Die meiner Familie nämlich. Hirschberg, so der einstige Name der 78.000-Einwohner-Stadt Jelenia Góra, ist der Geburtsort meiner Oma. 1938 kam sie hier als Ingrid Helga M. zur Welt. Als Siebenjährige flüchtete sie mit ihren Eltern, Ella und Walter, und ihrem Bruder Wilfried Richtung Westen – so wie insgesamt etwa 14 Millionen Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den damaligen deutschen Ostgebieten vertrieben wurden. Kamen wir zu Hause auf dieses Thema zu sprechen, gab Oma einen gequälten Laut von sich und winkte ab. Was ich weiß, beschränkt sich auf das Folgende: Die Familie konnte, anders als viele andere, nach kurzer Flucht im nur 70 Kilometer entfernten Görlitz Wurzeln schlagen, wo Ella und Walter schon einmal gelebt hatten. Und doch ist diese Zeit auch für sie mit schlimmen Erinnerungen verbunden, Erinnerungen an eisige Kälte, an Armut, Hunger und Schmerz. Ich weiß, dass man meiner Oma fast den erfrorenen Fuß hätte amputieren müssen. Und dass ihre verzweifelten Eltern den Arzt, der das zu verhindern wusste, mit einem geklauten Sack Kartoffeln bezahlten.

Jelenia-Gora-Laubengänge
Jelenia Góra, ehemals Hirschberg, ist bekannt für seine Laubengänge rund um das Rathaus

Sicher hätte Oma mir noch mehr davon erzählt, wenn ich sie nur gefragt hätte. So vieles würde ich sie gern fragen. Über ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Träume. Ich wüsste gern, welche Erinnerungen sie nie losgelassen haben. Und was sie zu der lebenslustigen, willensstarken Frau gemacht hat, als die ich sie im Herzen trage, zum Fels in der Brandung in meiner Familie. Ob sie selbst überhaupt je nach Jelenia Góra gereist wäre? Auch das kann ich sie leider nicht mehr fragen, denn sie verstarb im Jahr 2004, da war ich gerade 21 Jahre alt.

Und nun bin ich zusammen mit meiner Mutter an dem Ort, an dem das Leben meiner Oma begann. Vielleicht gelingt es uns ja, das alte Wohnhaus der Familie zu finden? Im Internet habe ich sogar eine Adresse gefunden: Ein Mann namens Winfried Schön – er wurde selbst 1935 in Hirschberg geboren und lebt in Baden-Württemberg – hat über Jahre in mühevoller Kleinarbeit Adressen, Berufe und andere Informationen über die damaligen Bewohner der Stadt zusammengetragen. Auf seiner Website wimawabu.de habe ich in einer Liste der Einwohner Hirschbergs im Jahr 1939 den Namen meines Urgroßvaters entdeckt. Walter M., Buchhalter. Auch der Beruf stimmte, das musste er sein! Daneben sah ich die Adresse und schluckte: Hermann-Göring-Straße 54. Wie sollten wir in der polnischen Stadt Jelenia Góra eine Straße finden, die früher diesen unsäglichen Namen trug? Wie herausfinden, wie sie heute heißt?

Jelenia-Gora-Zentrum
Auch hier versteckt sich ein Hirsch

Zufällig stieß ich vor unserer Abreise auf einen Anhaltspunkt. Online fand ich zwei alte Postkarten von Hirschberg, die den „Adolf-Hitler-Platz“ zeigten. Auf einer der Karten war der Platz aus einer anderen Perspektive abgebildet, mit einer breiten Straße im Hintergrund. Darunter stand: „Adolf-Hitler-Platz mit Hermann-Göring-Straße“. Somit war klar: Wir mussten uns an der Karte orientieren und diesen Platz finden.

Am ersten Tag flanieren meine Mutter und ich durch das Zentrum von Jelenia Góra. Wir laufen über den Marktplatz mit den barocken Bürgerhäusern in Pastellfarben, dem Rathaus und den Laubengängen rundherum und später durch die Einkaufsstraße in der Altstadt, in der die Fassaden ebenso bunt sind. Immer wieder halte ich an und starre auf die schwarz-weißen Postkarten, die ich als Screenshots auf dem Handy gespeichert habe. Ich scanne die Umgebung ab, doch den Platz kann ich nirgends erkennen. Vielleicht sind die Gebäude ja längst abgerissen, und der Ort sieht heute vollkommen anders aus? Wir geben die Suche fürs Erste auf.

In unserer Ferienwohnung – die Asphaltfräse ist zum Glück fertig – widmen wir uns den Fotos, die meine Mutter auf diese Reise mitgebracht hat. Eines zeigt Oma als kleines Mädchen mit ihrem großen Bruder Willi vorm Weihnachtsbaum. Es ist das älteste Bild, das wir von ihr haben, und muss noch in Hirschberg entstanden sein. Auf einem anderen lächelt sie bei ihrer Konfirmation in die Kamera, noch ganz schüchtern und schmal. Auf dem nächsten ist Oma Mitte zwanzig, da arbeitete sie längst als Friseurin in Görlitz. Ich bilde mir ein, darauf den Schalk in ihrem Nacken zu erkennen. Sie hat so gern getanzt, so gern Späße gemacht und alle mit ihrem herzhaften Lachen angesteckt und mit ihrer Lebensfreude mitgerissen. Sie hat mich so oft getröstet, wenn ich traurig war.

Meine Mutter hat nicht nur die Fotos, sondern auch das „Familien-Stammbuch“ eingepackt. Fleckig
und vergilbt ist es, doch die Heirats-, Geburts- und Todesscheine kann man noch immer gut entziffern. Beim Durchblättern werde ich daran erinnert, dass es neben Helga, meiner Oma, und ihrem Bruder Wilfried zwei weitere Geschwister gab. Beide waren schon gestorben, bevor Oma geboren wurde. Christa wurde nur sechs Jahre, Klaus-Dieter nur ein halbes Jahr alt. Mir wird klar, wie viel Grauen Omas Eltern schon vor dem Krieg erlebt hatten. Wie schafft man es, nicht zu zerbrechen an so viel Leid? Wie fängt man immer wieder neu an?

Am nächsten Tag fasse ich mir ein Herz und bitte eine Mitarbeiterin in der Touristen-Information um Hilfe. Ich zoome auf dem Handy-Bildschirm so weit in die alte Postkarte hinein, dass man die Aufschrift „Adolf-Hitler-Platz“ am unteren Bildrand nicht mehr lesen kann. Ob sie weiß, wo sich dieser Ort befindet? Sie beugt sich über mein Handy, nickt, schnappt sich einen Stadtplan und zeichnet ein Kreuz hinein. Als sie ihn mir zuschiebt, traue ich meinen Augen nicht: Der Platz – heute heißt er „Plac Niepodległości“, auf Deutsch: „Unabhängigkeitsplatz“ – liegt nur ein paar Schritte von unserer Unterkunft entfernt. Wir müssen die frisch aufgehackte Straße nur in die andere Richtung gehen.

Wenig später stehen wir am Plac Niepodległości, der fast noch genauso aussieht wie auf der alten Postkarte. Mit dem Platz haben wir auch die Straße gefunden, „Wolności“ heißt sie heute. Etwas aufgeregt laufen wir sie hinab bis zur Nummer 54 und finden uns vor einem beige-roten Mietshaus wieder, in dessen Erdgeschoss eine Trichologin, eine Expertin für Haargesundheit, ihre Praxis betreibt. Wenn das Gebäude nach dem Krieg nicht neu gebaut und die Hausnummern nicht verändert wurden, stehen wir nun vor dem Haus, in dem meine Oma als Kind gewohnt hat. Einmal mehr auf dieser Reise denke ich ganz fest an sie und fühle mich ihr nah.


Wer nicht mit dem Auto nach Niederschlesien reisen möchte, kann den Bus oder den Zug nehmen. FlixBus bietet zum Beispiel von Berlin aus eine Verbindung über Breslau nach Jelenia Góra, dieselbe Route deckt auch die Deutsche Bahn ab. Von Görlitz aus fährt auch die polnische Regionalbahn „Koleje Dolnośląskie“ („Niederschlesische Eisenbahn“) direkt nach Jelenia Góra und zurück.

Jelenia Góra liegt am Fuße des Riesengebirges, deshalb bieten sich Ausflüge in die Natur an. In der Stadt selbst gibt es aber auch viel zu entdecken.

Nur einen Kilometer vom Zentrum entfernt liegt der Krzywousty-Hügel, auf dem ein schöner Wanderweg zum Aussichtsturm „Grzybek” („Pilzchen“) führt. Wer Glück mit dem Wetter hat (hatten wir nicht), sieht von hier oben die ganze Stadt vor dem Hintergrund des Riesengebirges, des Bober-Katzbach-Gebirges und des Landeshuter Kamms.

Aussichtsturm-Grzybek-Jelenia-Gora
Bei gutem Wetter hat man vom Aussichtsturm „Grzybek einen schönen Blick auf Jelenia Góra und die Gebirgszüge, die die Stadt umgeben

Einen guten Blick auf die Stadt hat man auch von der Terrasse auf dem Burgtorturm.

Es lohnt sich, die Augen nach Skulpturen offen zu halten, die sich überall im Zentrum in allen Größen finden. Auf dem Marktplatz röhrt ein Hirsch aus rotem Glas, an mehreren Stellen verstecken sich winzige Hirsche auf den Gehwegen.

Hirsch-Statue
Mini-Hirsch mit Klampfe in Jelenia Góra

Am Rathaus befindet sich der „Stelzenläufer“, eine Skulptur, die die lange Tradition der Straßentheater in der Stadt würdigt. Seit 1983 findet in Jelenia Góra jährlich ein internationales Straßentheaterfestival statt.

Stelzenlauefer
Der Stelzenlaeufer am Rathaus soll an die Bedeutung des Straßentheaters für Jelenia Góra erinnern

In Jelenia Góra gibt es einige imposante Kirchen, etwa die dreischiffige, gotische Basilika der Heiligen Erasmus und Pankratius mit einem aus dem 17. Jahrhundert stammende Hochaltar von Thomas Weissfeld. Weniger als zehn Minuten Fußweg entfernt steht die Kreuzerhöhungskirche, deren Grundriss die Form eines griechischen Kreuzes hat und die zehntausend Personen beherbergen kann. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die Katholiken das vormals evangelische Kirchengebäude mit barockem Hauptaltar und Orgelprospekt.

Unbedingt einen Besuch wert ist auch der Stadtteil „Cieplice Śląskie-Zdrój“ (bekannt als „Bad Warmbrunn“) mit seinen  heißen Schwefelquellen. Die Geschichte des Ortes als Heilbad reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück.

Mehr Infos gibt es in dieser Broschüre (PDF), die auf der Seite der Stadt heruntergeladen werden kann. 

Die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin verfügt über ein Dokumentationszentrum (Stresemannstraße 90) und gibt auf flucht-vertreibung-versoehnung.de Recherche-Tipps. Unter „Bibliothek & Zeitzeugenarchiv“ – „Familienforschung“ kann man dort kostenlos die Broschüre „Handreichung zur Familienforschung“ herunterladen. Darin finden sich nützliche Webadressen und Infos zur Suche in Archiven, bei Ämtern, Gerichten, Botschaften und Kirchengemeinden. Es ist ratsam, auch scheinbar unwichtige Dokumente zu sammeln und Namen und Orte ausgiebig zu googlen – zahlreiche Verbände und Privatpersonen haben gerade zu den ehemaligen deutschen Ostprovinzen viele Informationen im Netz zur Verfügung gestellt.


Flucht und Trennung reißen Menschen aus ihrem Leben - und hinterlassen Wunden, unter denen nicht selten noch die nächsten Generationen leiden.
Der Roman „Bis ans Meer“ basiert auf der Familiengeschichte seiner Autorin, der Fernsehmoderatorin Peggy Patzschke: Im Januar 1945 muss Frieda mit ihrer Tochter Erika aus Schlesien fliehen. Ihr Mann Karl ist an der Front, und Frieda weiß nicht, ob sie ihn je wiedersehen wird. Jahrzehnte später setzt sich die Enkelin mit den Erlebnissen ihrer Oma auseinander und fragt sich, was sie mit ihren eigenen Bindungsschwierigkeiten zu tun haben …
Ein Buch, das eindrücklich die Schrecken des Krieges beschreibt und anregt, das Leben seiner Vorfahren genauer zu ergründen. (Rütten & Loening, 22 Euro)

Transparenzhinweis: Das Buch wurde mir kostenlos als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.


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Adelheid Droste
16. April 2025 7:50

Guten Tag und vielen Dank für diesen eindrucksvollen und empathischen Beitrag. Meine Mutter kommt aus Ostpreußen, sie ist mit 12 Jahres von dort geflüchtet, und ich habe mich auch in den letzten Jahren sehr mit ihrer Geschichte und der der Flüchtlingsgeneration beschäftigt und mir wurde klar, was das für ihr weiteres Leben bedeutete und wie sehr auch ich durch diese Erlebnisse geprägt wurde, was sie für mein Leben bedeuteten. Vieles lässt sich dadurch eher verstehen. Danke für Ihren Beitrag und alles Gute für Sie. Viele Grüße, Adelheid Droste