Zuletzt aktualisiert am 29. Oktober 2023 um 15:40
Seit 20 Jahren zieht es Oliver Zwahlen immer wieder nach China, sechs Jahre lang hat er sogar in der Hauptstadt Peking gelebt und gearbeitet. Bis auf Tibet hat der Schweizer alle chinesischen Provinzen bereist und die rasante Wandlung des Landes hautnah miterlebt. Nun hat er mit „111 Gründe, China zu lieben“ ein Buch über das „Reich der Mitte“ geschrieben – über seine Vielfalt und Einzigartigkeit, aber auch über seine Ecken und Kanten.
2001 reist Oliver zum ersten Mal nach China
Eine Zeitlang im Ausland leben, vielleicht sogar als Auslandskorrespondent arbeiten: Davon träumt Oliver Zwahlen schon während seines Studiums, doch so richtig klappt es damit erst mal nicht. Dann hilft der Zufall nach: 2007, nach einer anstrengend Arbeitsphase bei einer Tageszeitung, will der Schweizer sich weiterentwickeln. Es zieht es ihn hinaus in die Welt, aber statt als Backpacker von Land zu Land zu tingeln, will er sich Zeit nehmen für ein anderes Land, sich wirklich einlassen auf eine andere Kultur. Was ihm vorschwebt, ist ein mehrmonatiger Japanischkurs in Tokio.
Bis er die Preise für sein Vorhaben recherchiert. „Als ich die Kosten für den Kurs und die Unterkunft durchgerechnet habe, wurde mir klar, dass daraus nichts wird“, erzählt er. Und so rückt China wieder in den Fokus – ein Land, das er auf mehreren Reisen schon kennen – und lieben – gelernt hat. Er schreibt sich für einen viermonatigen Sprachkurs an der Pekinger Universität für Sprache und Kultur ein, beantragt ein Studentenvisum und macht sich im Sommer 2007 auf den Weg in die chinesische Hauptstadt.
2001 war der leidenschaftliche Traveller zum ersten Mal in China. „Ich hatte für die Reise extra einen Chinesisch-Kurs belegt, aber da sind wir nur qualvoll langsam vorangekommen. Bei meiner Abreise konnte ich vielleicht zehn Schriftzeichen und zwei Sätze“, erinnert er sich. Oliver hat damals aber auch anderweitig vorgesorgt: „Es gab eine Webseite, auf der man Brieffreunde auf der ganzen Welt finden konnte. Darüber hatte ich junge Chinesen angeschrieben.“ So hat er in fast allen Metropolen, die er auf seiner zweimonatigen Reise besucht – Peking, Xian, Lanzhou, Chengdu –, schon einheimische Kontakte.
Über Xian, die Stadt mit der berühmten Terrakotta-Armee, Chengdu und Kunming fährt er mit Bussen und Zügen durch kleine Dörfer im Himalaya bis zur laotischen Grenze. Er hat einen „Lonely Planet“-Reiseführer dabei, der ihm hilft, Unterkünfte zu finden. In China ist es nämlich – damals wie heute – verboten, ausländischen Gästen ein Zimmer zu vermieten, es sei denn, man hat dafür eine spezielle Lizenz. An manchen Orten muss er drei, vier Hotels abklappern, bis ihm eines einen Schlafplatz gewährt. Aber er hat Spaß an solchen Herausforderungen. Statt sich zu ärgern, wenn er mal wieder im falschen Bus sitzt, weil er die Fahrpläne und Haltestellenanzeigen in chinesischer Schrift noch nicht versteht, freut er sich vielmehr über zufällige Entdeckungen, die das Reisen so reizvoll machen. Als er einige Jahre später in China lebt, wird er mit einem Kollegen in das Autonome Gebiet Ningxia fliegen, um eine Sonnenfinsternis in der Sandwüste zu beobachten. Dem Taxifahrer vor Ort gibt er folgende Anweisung: „Fahre auf dieser Straße immer Richtung Süden, bis der Zähler 200 Yuan anzeigt, da steigen wir aus.“
Schon als Kind hat der Reiseblogger (weltreiseforum.com) gern in Atlanten geblättert und sich gefragt, wie es anderswo auf der Welt wohl so ist. Er hat die Abenteuergeschichten des Bären „Petzi“ geliebt, der mit seinen Freunden auf einem selbstgebauten Schiff um den Globus reist. Die Faszination für das Unbekannte, das Unvertraute, begleitet ihn auch bei seiner ersten China-Reise. „Außerhalb von Peking war ich fast überall der einzige ausländische Reisende“, sagt er. Auf der Strecke von Chengdu nach Kunming – beide sind Millionenmetropolen – sieht er fünf Tage am Stück keinen einzigen Ausländer. Überhaupt: diese Städte. „Es ist schon verrückt, dass es so viele Metropolen in China gibt, die wesentlich größer sind als die meisten in Europa. Und doch haben viele Menschen im Westen noch nie von ihnen gehört.“
Zwei Monate reichen nicht, um so richtig einzutauchen. Dafür ist das Land zu groß, zu vielfältig, zu dynamisch. Oliver weiß, dass er eines Tages zurückkehren wird – zumal sein Geschichtsstudium das Interesse an anderen politischen Systemen geweckt hat. Warum handeln Menschen, wie sie handeln? Welchen Einfluss hat der Kommunismus auf ihre Lebenswelt, auf ihr Denken? Oliver möchte das, was er in seinen Geschichtsseminaren theoretisch betrachtet, auch in echt erleben – auch weil das Land für den Westen immer bedeutsamer wird. Dass er sechs Jahre lang in Peking wohnen und schließlich auch ein Buch über China schreiben wird, ahnt er damals nicht.
Buchtipp
111 Gründe, China zu lieben
In „111 Gründe, China zu lieben“ gibt Oliver Zwahlen in kurzen Kapiteln spannende Einblicke in das Land, in das er sich vor zwanzig Jahren verliebt hat. Er berichtet von persönlichen Erlebnissen, Eigenheiten und Entwicklungen – den positiven wie den negativen, auch vor Menschenrechtsverstößen verschließt er die Augen nicht. Dabei beweist er ein sicheres Gespür für das Wesentliche und gibt seinen Leser:innen auf unterhaltsame Weise das Hintergrundwissen an die Hand, das es braucht, um China besser zu verstehen.
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Sommer 2007. Sechs Jahre sind seit seiner ersten Reise nach China vergangen, vier Monate Sprachkurs in Peking stehen an. Und diesmal kommt Oliver ganz und gar im „Reich der Mitte“ an. Gegen Ende seines Kurses bewirbt er sich auf eine Arbeitsstelle: Ein chinesischer Verlag sucht einen deutschsprachigen Mitarbeiter und er ist der einzige Bewerber. Oliver bekommt den Job und ein gutes Expat-Gehalt.
111 Gründe, China zu lieben: Stinktofu ist einer
Damit beginnt sein Alltag in Peking. Der Schweizer flaniert gern durch das historische Stadtzentrum, am Houhai-See entlang. Hier reiht sich an einem Ende eine Bar an die andere, am anderen Ende kann man fischen. Er findet Gefallen an Pekings vielseitiger Musikszene, besucht gern Konzerte, ist fast jeden Abend unterwegs. Meistens trifft er sich nach der Arbeit mit Freunden zum Essen. „Das Essen ist göttlich und in Peking gibt es überall im Radius von 50 Metern mehrere gute Restaurants mit günstigen Speisen. Ich habe in den sechs Jahren in China vermutlich kein einziges Mal selber gekocht.“ Manchmal stehen die Gerichte auf „Chinglish“ in der Karte, also als fehlerhafte Übersetzungen ins Englische. „Chicken fuck vegetable“ heißt das Gericht, das der Reiseblogger in einem Lokal in der Nähe seines Büros besonders gern bestellt. Er lernt, warum der Reis in gehobenen Restaurants immer erst am Schluss serviert wird (weil er ein billiges Nahrungsmittel ist, mit dem man Gäste nicht „abfüllt“) und dass Stinktofu – mag er auch noch sehr nach einer Mischung aus zu lange getragenen Socken und Kloake müffeln – tatsächlich köstlich schmeckt.
So oft es geht, bricht er zu Reisen innerhalb des Landes auf. Er fährt gern mit dem Zug und lernt die Begegnungen und Gespräche lieben, die sich in China unterwegs auf Schienen ganz natürlich ergeben. „In China spielen die Passagiere zusammen Karten und teilen das Essen. Das war für mich ungewohnt. Bei uns in der Schweiz hat man als Zugpassagier manchmal über Stunden nicht einmal Augenkontakt mit anderen Fahrgästen.“
Bis auf Tibet bereist Oliver alle chinesischen Provinzen. Ihm gefällt vor allem das ländliche China mit seinen zauberhaften Minderheitendörfern, allen voran das Bergdorf Langmusi im Himalaya, in dem sich zwei tibetische Klöster befinden. China ist das Land, das sowohl den größten Temperatur- als auch den größten Höhenunterschied der Welt aufweist. Kilometer für Kilometer zieht ihn diese Vielfalt in ihren Bann. Er besucht das Danxia-Gebirge in der westchinesischen Provinz Gansu, das wegen der breiten, bunten Streifen an seinen Felsen aussieht wie die Buntstiftzeichnung eines Fünfjährigen. Er reist zu den leuchtend blauen Seen von Jiuzhaigou im Südwesten und an den „Red Beach“ in der nordostchinesischen Provinz Liaoning, wo die „Strand-Sode“, ein grünes, krautiges Gewächs, sich rot färbt, je mehr Salz sie aus dem Boden aufnimmt. „Im Sommer leuchtet das Kraut so intensiv rot, dass man glaubt, auf einem anderen Planeten zu sein.“
Und: Er stößt auf allerhand einzigartige, liebenswerte Marotten. Etwa auf die „tanzenden Omas“, die sich in jeder größeren chinesischen Stadt nach Sonnenuntergang zu dröhnender Musik zum Square Dance treffen. Oder die Großstädter, die am Sonntagmorgen im Pyjama durch die Wohnviertel schlurfen – skurril in einer Kultur, in der es doch eigentlich so grundlegend ist, sein Gesicht zu wahren und ordentlich auszusehen. „Meinen chinesischen Freunden war das Verhalten ihrer Mitmenschen peinlich“, sagt Oliver und lacht, „aber ich habe die Schlafwandler sofort ins Herz geschlossen.“
Schon vor seinem Sprachkurs hat der Schweizer auch Xinjiang im Nordwesten besucht – die Autonome Region, in der etwa zwölf Millionen mehrheitlich muslimische Uiguren mit eigener Sprache und Kultur leben. Heute hat Xinjiang weltweit traurige Berühmtheit erlangt, nachdem ans Licht gekommen ist, dass die Regierung mindestens eine Million Uiguren in Umerziehungslagern interniert hat, um ihnen ihre kulturelle Identität auszutreiben. Eine verstörende, sehr enttäuschende Entwicklung, schien sich das Land doch in der Zeit, in der Oliver in Peking wohnte, immer weiter zu öffnen, nach innen wie nach außen. „Ich habe während der offensten, liberalsten Jahre dort gelebt“, sagt der Autor, der auf sinograph.ch über China schreibt.
Heute ist ein Trip nach China eine Reise in die Zukunft
Auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz 2013 besucht Oliver das Land jedes Jahr. Er hat Chinas rasanten, stetigen Wandel hautnah erlebt. „Seit ich vor 20 Jahren das erste Mal in China war, hat sich das Land gewaltig entwickelt. Die Städte wurden moderner, die Straßen besser und die Züge schneller.“ Aber auch in den Köpfen der Menschen habe sich was verändert. „Auf meinen ersten Reisen interessierten sich die Leute hauptsächlich für materielle Dinge: Sie wollten wissen, wie viel man in der Schweiz verdient oder was meine Kamera gekostet hat. Heute geht es hingegen öfter um Selbstverwirklichung. Immer häufiger treffe ich Chinesen, die von einer eigenen Firma träumen oder von einer Weltreise.“
Inzwischen empfindet Oliver jeden Trip nach China auch als Reise in die Zukunft. Noch ein Grund, warum das „Reich der Mitte“ für ihn das faszinierendste Land der Erde ist – auch wenn das politische China es ihm alles andere als leicht gemacht hat, sein Buch „111 Gründe, China zu lieben“ zu verfassen. Es ist daher kein unkritisches Jubelbuch geworden. Der Autor hofft, dass das Land wieder zurück zu einer Politik der Öffnung findet. „Und bis dahin möchte ich ein China zeigen, das sich zu lieben lohnt. Trotzdem.“
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(Fotos: Oliver Zwahlen / Buchcover: Schwarzkopf & Schwarzkopf)
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Zum Glück werden am Ende auch kritische Töne angeschlagen, im Kontrast zu den 111 Jubelgesängen!
Leider überlagert der Umgang des Regimes mit der eigenen Bevölkerung (Überwachung), der Unterdrückung anderer Kulturen und Religionen (z.B. auch Tibet), der fehlenden Pressefreiheit usw. alles was an Land und Leuten vielleicht angenehm, schön und sehenswert ist und was das “Erlebnis China” eigentlich erstrebenswert machen würde.
Da hast du leider recht, aber es sind eben wie auch im Text deutlich geschrieben, keine „111 Jubelgesänge“, mag auch der Titel des Buches das nahelegen.
Hallo,
Wunderschön geschriebener Beitrag über das Buch von Oliver. Ich reise seit 1999 fast jährlich nach China und viele Erlebnisse kann ich nachvollziehen. Ich liebe die Zugreisenden durch das Land. Allein schon wegen dem Essen lohnt sich eine Reise nach China.
Ich hoffe, dass ich zum Jahresende wieder nach China fliegen kann.
Liebe Grüße
Thomas
Hallo Thomas,
vielen Dank. Ja, über das Essen allein könnte man x Bücher schreiben. Grüße zurück!
Für mich waren die „111 Gründe, China zu lieben“ damit für einige Abende eine unterhaltsame und auch lehrreiche Lektüre, der man anmerkt, dass Oliver Zwahlen China kennt und liebt wie wohl nur Wenige – und außerdem für mich eine schöne Einführung ins Reich der Mitte.
Das freut mich sehr, mir hat es auch gefallen.