Zuletzt aktualisiert am 10. September 2023 um 19:25
Kein Handy mehr im Schlafzimmer! Das ziehe ich jetzt durch – und das Lesen ist mir endlich wieder zum allabendlichen Ritual geworden. Ein Buch über das Leben in Bhutan hat es mir besonders angetan.
Ich bin eine von denen, die abends im Bett am Handy kein Ende finden, die einen Artikel nach dem anderen lesen, schnell noch ein YouTube-Video sehen und dann noch eins, die bei Instagram und Twitter immer weiter und weiter und weiter scrollen.
Mein Vorsatz: Endlich wieder RICHTIG lesen!
Schon lange habe ich mir das abgewöhnen wollen, zum einen, um besser in den Schlaf zu kommen, zum anderen, weil mindestens die Hälfte von dem, was ich da spätabends zufällig auf dem Handy sehe, letztlich nicht sehr sehenswert ist. Ich habe mich danach gesehnt, abends ein Buch aufzuschlagen und in eine Geschichte einzutauchen, so richtig einzutauchen, ohne dass irgendetwas blinkt oder klingelt und meine Aufmerksamkeit binnen kürzester wieder anderswohin lenkt. Ich wollte lesen und die Zeit vergessen. Müde werden. Einschlafen. Als Kind habe ich auf diese Weise stapelweise Bücher verschlungen. Als Erwachsene behielt ich das viele Jahre so bei, aber in den letzten Jahren ging ich fast nur noch mit meinem Smartphone ins Bett und immer seltener auch mit einem Buch.
Es ist nicht so, dass ich das Lesen ganz aufgegeben hätte: Letztes Jahr habe ich mir zum Beispiel „Hippie“ von Paulo Coelho gekauft, in der Hoffnung, dass es darin auch um das Kathmandu der 70-er Jahre geht, schließlich erzählt das Buch von einer Reise auf dem berühmten „Hippie Trail“. Aber erstens endet die Geschichte schon in Istanbul und über Nepal und seine Hauptstadt, in der ich zurzeit lebe, steht darin kein Wort. (Für die deutschsprachige Taschenbuch-Ausgabe hat man sich bei Diogenes irreführenderweise trotzdem für den Untertitel „Eine inspirierende Reise nach Kathmandu“ entschieden.) Zweitens ließ mich die Erzählung leider auch ansonsten kalt.
In der vernachlässigten Bibliothek der Sprachschule, in der ich arbeite, fand ich ein paar Wochen später „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Christiane F. und „Kleiner Mann, was nun?“ von Hans Fallada (der aus meiner Heimatstadt Greifswald stammte). Beide Bücher hatte ich schon lange einmal lesen wollen und in beiden Fällen hat es sich gelohnt. Mit der „Onleihe-App“ stieß ich dieses Jahr auf David Wagners „Leben“ und beschloss, mir irgendwann weitere Bücher von ihm zu besorgen. Auf dem Handy las ich außerdem Katja Oskamps wunderbares „Marzahn, mon amour“ und zuletzt Doris Dörries ebenso wunderbares „Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben“.
Die Onleihe-App möchte ich nicht mehr missen, aber das Lesen ist für mich einfach nicht dasselbe. Wenn ich am Handy lese oder wenn es einfach nur neben mir liegt, komme ich immer nur häppchenweise voran. Ich muss öfter von vorn anfangen, bin unkonzentriert, bleibe nicht mehr so häufig wie früher an besonders schönen Textstellen hängen und schaue mir spätestens nach zehn Minuten doch wieder irgendetwas anderes auf dem Smartphone an, und dafür muss noch nicht mal eine Push-Meldung eingegangen sein.
Ich beschloss, das Handy einfach nicht mehr mit ins Schlafzimmer zu nehmen. Und seitdem klappt es wieder besser mit dem Eintauchen in eine Geschichte.
“Mein Leben in Bhutan” von Jamie Zeppa: Unerwarteter Glücksgriff
In der muffigen Bibliothek zog ich zwei weitere Bücher aus dem Regal und schlug zu Hause als erstes „Bhutan: Mein Leben in der Festung der Götter“ von Jamie Zeppa auf. (Inzwischen erscheint die deutsche Ausgabe übrigens mit einem anderem Titel: „Mein Leben in Bhutan: Als Frau im Land der Götter“. Der englische Originaltitel bleibt aber der schönste: „Beyond the sky and the earth: A journey into Bhutan“.)
Auf dem Cover blickt eine Person mit Hut, Rucksack und Wanderstock in ein Tal hinab, das fast komplett von einer riesigen Wolke verdeckt wird.
Ich stellte mir einen eher intellektuellen Bericht über den Buddhismus und über das Leben in einem Kloster in völliger Abgeschiedenheit vor. Tatsächlich erwartete mich eine mitreißende und unterhaltsame Erzählung einer Frau, die mit 24 Jahren in das buddhistische Königreich Bhutan zog, um zu unterrichten.
Jamie Zeppa ist Kanadierin, sie studiert in Toronto, als sie beschließt, über eine Freiwilligenorganisation eine Stelle als Gastlehrerin in Ostbhutan anzunehmen. „Ich wollte mich in eine Erfahrung stürzen, die eine Nummer zu groß für mich war, und wollte auf eine Art und Weise lernen, die mir etwas abverlangte“, erinnert sie sich. Dieser Gedanke hat auch mich motiviert, als ich meinem Freund, heute Ehemann, vor zweieinhalb Jahren ohne zu zögern in sein Heimatland Nepal folgte, wobei mein Aufenthalt in Kathmandu aus vielen Gründen nicht im Geringsten mit Jamie Zeppas Leben in Bhutan vergleichbar ist. Sie landet im Distrikt Pemagatsel, wohnt ausgesprochen abgeschieden in einer schäbigen Unterkunft, durch die nachts die Ratten flitzen. Es gibt keinen Strom und meist auch kein fließendes Wasser. Von einem Telefon ganz zu schweigen.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Geschichte schon vor mehr als 30 Jahren spielt, 1989 um genau zu sein. Zehn Jahre später, 1999, erschien sie erstmals als Buch. Bhutan hat sich seitdem stark verändert, das hatte ich beim Lesen auch immer im Hinterkopf, und doch merkt man den Memoiren ihr Alter erstaunlich selten an. Viele der Erkenntnisse, die Jamie Zeppa während ihrer ersten Jahre in dem buddhistischen Königreich im Himalaya gewinnt, sind heute noch genauso relevant, zumal die Autorin eine großartige Erzählerin ist und es versteht, Missstände, Unterschiede und Absurditäten auf den Punkt zu bringen.
Erst einmal sitzt Jamie Zeppa jedenfalls in Pemagatsel fest– und kann nicht fassen, dass sie Toronto mit all seinen Annehmlichkeiten hierfür zurückgelassen hat. Es kostet Zeit, bis sie den Anblick der Berge im Frühnebel lieben lernt, der sich ihr vor ihrer Haustür bietet. Und nach und nach wachsen ihr die Schüler und Schülerinnen der Klasse 2c ans Herz, die sie ab jetzt unter erschwerten Bedingungen unterrichten soll. Es gibt weder einen Lehrplan noch Bücher. Manche Kinder legen täglich viele Kilometer barfuß zurück, um überhaupt zur Schule zu gelangen. Einige stehen ständig unangekündigt vor ihrer Tür, um ihr Gemüse vorbeizubringen. Sie fragen nach Fotos von ihrer Familie und ihrem “Dorf” und sind verwirrt, als sie sehen, was ihre junge Lehrerin in einen Müllsack gesteckt hat und entsorgen will. Leere Flaschen, Verpackungen und Plastiktüten: Für die Kinder aus Klasse 2c sind diese Gegenstände keineswegs Müll.
Bhutan ist eine andere Welt, aber kein “Shangri-La”
„Alles ist wertvoller, weil es von allem weniger gibt“, erkennt Jamie. Die Küche in ihrer Unterkunft ist und bleibt die hässlichste, kälteste, primitivste Küche, die sie je gesehen hat, aber sie bietet ihr alles, was sie braucht. Von Monat zu Monat vermisst sie ihre Heimat etwas weniger. Sie gewöhnt sich an ihr einfaches Leben in diesem fernen, kleinen Land, das noch bis in die 60-er Jahre vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. Sie erzählt eindrücklich davon, wie der Buddhismus das Leben der Menschen prägt, ohne die vorherrschende Armut zu verklären.
Bei einem Besuch in Kanada, ihrem ersten nach fast zwei Jahren, fühlt sie sich von dem Überfluss, der ihr von allen Seiten entgegenströmt, regelrecht erschlagen. Überall gibt es von allem viel zu viel, aber an Bewusstsein fehlt es. Alle bestehen darauf, mit dem eigenen Auto zu fahren. Jamie, die es längst gewöhnt ist, sich auf Lastwagen, in vollen, klapprigen Gefährten oder zu Fuß fortzubewegen, stößt das sauer auf. Freunde und Familie wollen ihre Kritik aber nicht hören. „Jeder von ihnen wünscht sich eine sauberere, einfachere, sicherere, gesündere Welt, aber keiner will etwas aufgeben. Keiner will mit dem Bus fahren.“
Später wird Jamie Zeppa an ein College in der Nähe von Tashigang versetzt und unterrichtet junge Erwachsene. In dieser Zeit erlebt sie, wie die Flüchtlingskrise in Bhutan ihren Anfang nimmt: Im Süden des Landes leben die “Lhotshampa”, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus Nepal nach Bhutan eingewandert sind, weil das Königreich auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen war. Die nepalesischen Bhutaner blieben weitgehend unter sich und hielten an ihrer Sprache und Kultur fest– sehr zum wachsenden Ärger der Regierung, die in den 1980-er Jahren damit begann, die Bewohner im Süden zur kulturellen Assimilierung zu zwingen. Geduldet wurden fortan nur noch Nepalesen, die vor 1958 eingewandert waren. Und während die Welt Bhutan als “das letzte Shangri-La”, das “glücklichste Land der Welt” kennen lernte, verloren unzählige Bhutaner ihren Pass und wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Hunderttausende hat man schließlich nach Nepal abgeschoben oder in andere Staaten umgesiedelt. Jamie Zeppa erlebt hautnah mit, wie der Konflikt sich zuspitzt und immer mehr Studierende aus dem Süden dem College fernbleiben. Auch dieser Teil ihrer Geschichte ist bis heute relevant. Auf der ganzen Welt wiederholt er sich immer und immer wieder.
Während ihrer Zeit am Sherubtse College entscheidet sich auch die Zukunft der Kanadierin: Sie wird das Königreich im Himalaya so schnell nicht wieder verlassen. Die Erzählung neigt sich derweil ihrem Ende zu und wie nach jeder guten Geschichte bin ich ein wenig traurig, als ich die letzte Seite umschlage.
Auf meinem Nachttisch liegt der andere Schinken, den ich aus der Bibliothek mitgenommen habe: die 835 Seiten dicke Autobiografie von Nelson Mandela. Danach kommt „To kill a mockingbird“ von Harper Lee dran, das ich kürzlich im neuen Ableger vom “Pilgrims Book House” , Kathmandus berühmtester Buchhandlung, erstanden habe. In dem neu gebauten Buchladen in Jhamsikhel habe ich nach langer Zeit mal wieder gemerkt, wie gern ich Zeit in Buchläden verbringe, ich hätte noch stundenlang weiterstöbern können. “To kill a mockingbird” jedenfalls ist auch so ein Buch, das ich immer schon mal lesen wollte. Und heute habe ich erfahren, dass Sven Regener einen Roman namens “Glitterschnitter” geschrieben hat, der in ein paar Tagen erscheint. „Neue Vahr Süd“ ist eines meiner Lieblingsbücher, auch die Nachfolger mochte ich und so werde ich sicher auch „Glitterschnitter“ lesen.
Überhaupt werde ich wieder viel mehr lesen, so viel ist mal klar. Und wer einen Buchtipp für mich hat, schreibe ihn mir bitte in die Kommentare. Ich freue mich!
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Danke für die Buchtipps!! Ich war in den 90er Jahren (also weit vor Internet, Mobiltel und eBooks) in Asien unterwegs und bin IMMER in die SecondHand Buchläden gegangen, um neuen Lesestoff zu finden. Für mich war Somerset Maugham DIE Entdeckung in dieser Zeit; lese ich auch heute noch gerne.
Ich danke DIR! Und ich schäme mich ein bisschen: Ich habe den Namen dieses Schriftstellers noch nie gehört und musste googlen. Welches seiner Bücher würdest du denn für den Einstieg empfehlen? Oder generell? Vielen Dank!