Zuletzt aktualisiert am 31. Januar 2023 um 9:02
Lee Kuan Yew, Gründervater und Volksheld von Singapur, starb während meines Aufenthaltes in dem asiatischen Stadtstaat. So erlebte ich die Ausnahmestadt im Ausnahmezustand – und begriff währenddessen, warum Singapur heute so reich ist und zu den vier Tigerstaaten zählt. Dazu: Was macht die Tigerstaaten (englisch: Four Asian Tigers) aus?
Lee Kuan Yews Tod: Ausnahmestadt im Ausnahmezustand
Irgendetwas stimmt nicht. Das spüre ich, noch bevor ich den Frühstücksraum meines Hostels in Singapur betrete. Die Stimme einer Nachrichtensprecherin durchdringt die vollkommene Stille, sie kommt aus dem Flachbildfernseher an der Wand.
Vor ihm steht die schätzungsweise 60-jährige Angestellte, die mich gestern so überschwänglich begrüßt hat. „Auntie“ nennt sie jeder hier.
Sie ist kaum wiederzuerkennen, die kleine Frau mit den grauen, fransig geschnittenen Haaren und der rot gerahmten Brille. Sich selbst umklammernd starrt sie in den Fernseher, sie hält den Kopf leicht schräg, auf ihrer Stirn eine tiefe Falte, in der Hand ein zerknülltes Taschentuch. Auntie nickt schwach in meine Richtung, als sie mich bemerkt.
Ich setze mich mit einer Schale Müsli an einen der Tische und begreife, was passiert ist: Mr. Lee ist tot. Mit 91 erlag Singapurs Gründervater und erster Premierminister den Folgen einer Lungenentzündung. Er starb in der Nacht unweit von hier im General Hospital. Hunderte Singapurer haben seitdem Blumen vor dem Krankenhaus niedergelegt.
Über den Bildschirm läuft jetzt ein Schwarz-Weiß-Film mit Klaviermusik unterlegt, er zeigt die Höhepunkte aus dem Leben Lee Kuan Yews: Mr. Lee als Student in Cambridge. Mr. Lee beim Händeschütteln mit den Regierungschefs von Indonesien und Hongkong. Mr. Lee beim Winken in die Menge. Mehr als dreißig Jahre lang, von 1959 bis 1990, regierte er den Stadtstaat, weitere zwanzig war er Chefberater im Kabinett. Auntie nimmt die Brille ab und tupft die Augen trocken. Die Regierung hat sieben Tage Staatstrauer angekündigt, sagt die Nachrichtensprecherin.
Ein Tigerstaat trägt Trauer
Und so erlebe ich Singapur, die Ausnahmestadt, im März 2015 im Ausnahmezustand. Überall ist Lee Kuan Yew. Sein Gesicht und sein Name zieren die Bildschirme jedes Geldautomaten und jeder Fahrplananzeige. Die Menschen tragen Aufkleber an ihrer Kleidung: eine schwarz-weiße Schleife mit seiner Silhouette. Zwei Tage nach seinem Tod formt sich die längste Warteschlange, die ich je gesehen habe, kilometerweit führt sie mehrere Runden durch die Innenstadt bis zum Parlament. Hier liegt der Staatsgründer aufgebahrt. Vier Tage lang ist sein Leichnam der Öffentlichkeit rund um die Uhr zugänglich. Vier Tage lang reißt der Andrang nicht ab. Junge, Alte, Paare, Familien mit Kindern – insgesamt 450.000 Singapurer, heißt es später in der Zeitung – stehen bis tief in die Nacht an, um Lee Kuan Yew die letzte Ehre zu erweisen. Wartezeit: bis zu elf Stunden.
Wie die Metropole zu einem der vier Tigerstaaten wurde
In einer dieser Nächte, während sich die Schlange im Zeitlupentempo durch die Stadt schiebt, stehe ich auf dem Dach des 1-Altitude, eine der höchsten Sky-Bars der Welt. Vom Ausblick habe ich noch weiche Knie, als ich mit Jason ins Gespräch komme. „Von hier oben kann man Indonesien sehen“, sagt er und deutet über das Lichtermeer hinweg auf einen Punkt in der Ferne. Der Grafikdesigner ist 29, er trägt Baggypants und ein übergroßes Basecap, er hat sein ganzes Leben lang hier gelebt. Natürlich kommen wir auf Mr. Lee zu sprechen. „Ich habe größten Respekt vor ihm. Das alles hier würde es ohne ihn nicht geben“, sagt Jason und breitet die Arme aus.
Ich habe es ja selbst gesehen – die sauberen Straßen, die unzähligen schicken Hochhäuser, das perfekt ausgebaute Metro-Netz mit den hochmodernen Zügen. Erst gestern bin ich mit offenem Mund durch Marina Bay geschlendert, Singapurs jüngsten Stadtteil mit seinem weltberühmten Luxushotel Marina Bay Sands, mit dem Singapore Flyer – dem größten Riesenrad der Welt – und den Gardens by the Bay mit ihren Supertrees – riesige bepflanzte Metallbäume, die nachts in grellen Farben leuchten. Als würde ich durch die Zukunft spazieren, kam ich mir dabei vor.
Wirtschaftswunder: Mr. Lee hat den Stadtstaat vollkommen verwandelt
Aber jetzt spricht Jason von der Vergangenheit, von Singapur vor Lee Kuan Yew. „Die Stadt war bettelarm und von Malaria geplagt, die Arbeitslosigkeit war enorm“, weiß mein Gegenüber. Lee Kuan Yew, der den Staat 1965 in die Unabhängigkeit führte, habe es in kürzester Zeit zu dem gemacht, was es heute ist: ein blühendes Finanzzentrum mit einem der höchsten Lebensstandards der Welt.
Während Jason im Detail erklärt, was der Politiker erreicht hat, kommt mir Auntie in den Sinn. Ich stelle sie mir als Heranwachsende vor, die hautnah erlebt, wie der Wohlstand Einzug hält, wie Kranke versorgt und Schulen geöffnet werden. Vielleicht ist sie ja damals in eines der modernen Wohnhäuser gezogen, die Mr. Lee für die arme Bevölkerung bauen ließ, mit Strom und fließend Wasser. Vielleicht haben ihr Vater oder ihr Bruder endlich wieder Arbeit gefunden, als die Investoren aus dem Ausland kamen. Dabei fällt mir ein, dass Auntie heute Nachmittag nicht im Hostel war. Gut möglich, dass sie irgendwo da unten in der Schlange steht.
Tigerstaaten: Warum ist Singapur so reich?
Erst am nächsten Tag wird mir klar: Jason hat ausschließlich über Mr. Lees Verdienste gesprochen. Nicht aber über deren Preis. Wie hoch der ist, erfahre ich online in den Nachrufen westlicher Medien. Dem Wirtschaftswachstum habe der Nationalheld jeden anderen Wert untergeordnet, Grund- und Menschenrechte eingeschlossen. Von massiv eingeschränkter Presse- und Versammlungsfreiheit lese ich, von mundtot gemachten Journalisten. Oppositionelle habe er einsperren lassen; das Wahlsystem so gestaltet, dass seine Partei immer die Mehrheit gewann.
„Hätte ich die absolute Macht und müsste die repräsentierten Bürger nicht fragen, ob sie das, was gemacht wird, mögen, dann könnte ich ohne Zweifel viel effektiver in ihrem Interesse regieren “, hat Lee Kuan Yew einmal gesagt und seinen Führungsstil immer verteidigt: Nur so habe er den Wohlstand herstellen, nur so die Stabilität in dem kleinen Inselstaat mit seinen vielen Religionen sichern können. Was das Beste für seine Kinder ist – der Gründervater meinte es zu wissen.
Gründervater Lee Kuan Yew wird zutiefst verehrt
An meinem letzten Abend laufe ich zufällig am Fullerton-Hotel vorbei. Überlebensgroß ist Lee Kuan Yews Antlitz in gleißend weißem Licht an die Hauswand projiziert. Es ist dasselbe Foto, das derzeit überall in der Stadt zu finden ist. Ein bisschen altersmilde sieht er darauf aus, zufrieden. Unweit von hier säumen Polizisten die Straßen, in denen Zehntausende seit Stunden geduldig warten. Jedem, der abseits steht, weisen sie freundlich einen Platz in der Schlange zu und sofort reihen die Angesprochenen sich ein. Mr. Lee hat seine Kinder gut erzogen.
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Hintergrund: Was genau sind eigentlich Tigerstaaten?
Als Tigerstaaten – den Begriff gibt es schon seit den Achtziger Jahren – werden folgende vier Länder beziehungsweise Zonen bezeichnet: Südkorea, Singapur, Taiwan und die Sonderverwaltungszone Hongkong. Sie alle befinden sich auf dem asiatischen Kontinent, galten damals als Schwellenländer und zeichnen sich durch eine unheimlich schnell wachsende Wirtschaft und eine rasante Entwicklung aus.
Es gibt weitere Länder, die mit dem Begriff in Verbindung stehen: Sie gelten als die Tigerstaaten der zweiten Generation, daher nennt man sie oft auch „Pantherstaaten“ oder „neuen Tiger“: Diese neuen Tiger sind Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Thailand und Vietnam. Die Philippinen etwa sind aktuell nach China das Land mit der am stärksten wachsenden Wirtschaft in ganz Asien. Thailand ist jetzt bereits der neuntgrößte Autoproduzent der Welt und Indonesien trauen Experten eine so zügige Entwicklung zu, dass es Deutschland in Sachen Wirtschaftsleistung bis 2030 einholt. Industrieländer mit einem so hohen Lebensstandard wie es ihn in Europa oder Nordamerika gibt, sind bis heute aber nur die Länder der ersten Generation geworden, während die Staaten der zweiten Generation, die „neuen Tiger“, weiterhin als Schwellenländer gelten. Als stärkstes Beispiel und geradezu hypermodern gilt Südkorea.
Tigerstaaten haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten:
Früher Entwicklungsländer, heute Industrieländer
Für Singapur, Taiwan, Südkorea und Hongkong gilt: Noch zur Mitte des letzten Jahrhunderts waren diese Staaten wirtschaftlich unterentwickelt und strukturschwach. Die Gründe hierfür waren Rohstoffarmut, mangelnde Bildung sowie ungünstige landschaftliche Bedingungen. Entsprechend waren die heutigen Tigerstaaten von anderen Ländern abhängig und mussten eine Vielzahl von Gütern des täglichen Lebens aus dem Ausland importieren.
Tigerstaaten haben ihre Wirtschaftssysteme radikal umgestellt
Konsequent hat man dann in diesen Staaten und Zonen alles auf eine Karte gesetzt und der inländischen Produktion alle Wege geebnet. Das bedeutet: Tigerstaaten haben sich, um sich aus ihrer schlechten Wirtschaftslage zu befreien und schnellstmöglich Industrieländer zu werden, auf Massenfabrikation von Konsumgütern konzentriert. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste – weder auf Arbeitsschutzgesetze noch auf Gewerkschaften oder faire Löhne hat man damals was gegeben. Im Vordergrund stand vor allem, dass kostengünstig, schnell und unkompliziert produziert werden konnte, sehr zur Freude von ausländischen Unternehmern und Investoren.
Erst Jahrzehnte später, in den Neunziger Jahren, ließen sich soziale Forderungen der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr unterdrücken. Doch auch auf diese Phase der Depression hatten die politischen Führungskräfte der Tigerstaaten eine Antwort: Vom Niedriglohnsektor bewegten sie sich daraufhin weg und stattdessen hin zur modernen Industrie, die zum einen höhere Löhne und mehr Sicherheiten mit sich brachte und zum anderen das Wachstum des Dienstleistungssektors ankurbelte.
1997 / 98 jedoch mündete die Masse an größenwahnsinnigen Investitionen und unüberschaubaren Auslandskrediten zu einem krassen Wirtschaftseinbruch, der bei uns schnell als Asienkrise bekannt wurde. Betroffen waren neben Thailand, Indonesien, Malaysia und den Philippinen vor allem die Tigerstaaten. Ihre eigenen Währungen verloren massiv an Wert und auch die Arbeitslosenquoten stiegen wieder. Nachdem der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank umfangreiche Hilfsprogramme zur Verfügung stellten, konnten sie sich überraschend zügig wieder fangen. Ihre Wachstumsraten waren nach der Asienkrise aber bescheidener als zuvor. Hier und da war danach auch von Asiens Ex-Tigerstaaten die Rede.
In diesen Ländern dreht sich vieles um die Hightech-Industrie
Längst sind diese Länder echte Hightech-Giganten geworden, die in diesem Bereich in vieler Hinsicht weltweit die Nase vorn haben. Jedoch ist die einseitige Konzentration der Tiger auf einen Industriezeug auch riskant und kann nur allzu schnell abermals zu Abhängigkeiten führen.
Sie sind sehr dicht besiedelt
Und noch etwas haben die Tigerstaaten Singapur, Taiwan, Südkorea und Hongkong gemeinsam: Hier leben sehr viele Menschen auf engem Raum zusammen. Vor allem die Städte und Zentren dieser Wirtschaftswunder platzen aus allen Nähten, weil es die Landbevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten bis heute in die Metropolen zieht. An ihren Rändern muss deswegen stetig neuer Wohnraum geschaffen werden.
Dahingehend ist aber ein Ende abzusehen, weil gleichzeitig die Geburtenraten immer niedriger geworden sind und die Bevölkerungszahlen in den nächsten Jahren entsprechend rückläufig sein werden.
Zu guter Letzt: Warum heißen die eigentlich „Tigerstaaten“?
Der Begriff „Tigerstaat“ soll an die Kraft eines Tigers erinnern, der entschlossen zum Sprung ansetzt – ähnlich wie die Tigerstaaten (englisch „Four Asian Tigers “ oder auch „Asian Tiger States“) ihren wirtschaftlichen Aufschwung angepeilt und dann konsequent verfolgt haben.
Ein interessanter Link zum Schluss: Dieses Schweizer Finanzmagazin weist auf die aktuellen Probleme der Tigerstaaten hin, zu denen unter anderem eine alternde Bevölkerung zählen.
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Susanne, das ist mal wieder ein sehr kurzweiliger Text geworden. Super geschrieben und sehr interessant berichtet.
Auch wenn ich nicht selbst vor Ort gewesen bin, kann ich mir die Stimmung sehr gut vorstellen (dank deiner Beschreibung). Eine ganze Nation in Trauer.
Nächste Woche geht es für uns in die Zukunftsstadt. Bin schon gespannt, wie es ist deinen Spuren zu folgen, wenn wir am Singapore Flyer und an den Super Trees vorbeischlendern.
Liebe Grüße in die Heimat! PS: Und weiter so!! :)
Liebe Liane, vielen Dank, freut mich sehr. Vielleicht werdet auch Ihr Mr. Lee noch begegnen. Ich wünsche Euch in Singapur viel Spaß und bin gespannt, wie es Euch gefällt. Liebe Grüße zurück!
Liebe Susanne, ein wirklich guter Bericht, man kann sich gut in die Situationvor Ort hineinversetzen. Und außerdem (ich als alte Germanistin darf das sagen): dramaturgisch gut aufgebaut! Alles Liebe Britta
Vielen Dank, Britta. Und wie Du das sagen darfst! Es bedeutet mir viel.
Ein sehr informativer Bericht, der auch gut das Für und Wider der Entwicklung widerspiegelt. Solche Diktatoren schaffen es, wirtschaftliche Entwicklungen voranzutreiben und bleiben dadurch in guter Erinnerung. Die Frage ist nur, ob das alles nicht zu teuer erkauft worden ist. Dazu müsste man die befragen, die durch das System benachteiligt wurden.
Da hast Du Recht - so jemand ist mir leider nicht begegnet. Aber es gibt sie reichlich. Hier und da ist zu lesen von ausgegrenzten und jahrelang verfolgten Singapurern im Exil, mit denen das Land sich endlich aussöhnen solle. Gerade junge Leute hoffen jetzt auf mehr Demokratie. Gut möglich, dass sich jetzt einiges ändert.
Spannend, ich war genau zur gleichen Zeit in Singapur und habe es ähnlich erlebt - fast jeder, mit dem wir gesprochen haben, hat begeistert von “Mr Lee” gesprochen. Singapur hat mich sehr beeindruckt.
Liebe Grüße!
Hallo Eva, was für ein Zufall, dass Du zur selben Zeit da warst und meinen Text gefunden hast! Liebe Grüße zurück und Danke!