Zuletzt aktualisiert am 1. September 2022 um 6:26
Christian (39) hat sein Herz an die kleine Stadt Pai im bergigen Norden von Thailand verloren. Gemeinsam mit seiner Frau Victoria und seinem Sohn Liam verbringt er dort mehrere Monate im Jahr. Hier teilt er seine Erfahrungen und erzählt, was ihm am Leben in Thailand so gut gefällt.
Es begann mit einer Reise im Jahr 2006: Wir, meine Frau Victoria und ich, hatten gerade unser Studium abgeschlossen und wollten ein wenig mehr von der Welt sehen. Wir reisten nach Australien, Neuseeland und Thailand und verbrachten viel Zeit am Meer. In Pai, im bergigen Norden Thailands, sind wir nur zufällig gelandet. Aber nirgendwo haben wir uns so schnell wohl gefühlt und Freundschaften geschlossen wie in diesem Städtchen 130 Kilometer nordwestlich von Chiang Mai.
Wir fingen an, sternförmig um den Ort herumzureisen. Es zog uns einfach immer wieder an ihn zurück. Von Jahr zu Jahr wurden die Phasen, in denen wir uns hier aufhielten, länger, bis Pai schließlich viel mehr als ein zweites Zuhause für uns war. Inzwischen verbringen wir Jahr für Jahr mehrere Monate am Stück hier.
Leben in Thailand: Gutes Essen und andere Annehmlichkeiten
Was Pai, dieses Städtchen mit nicht mal 5000 Einwohnern, so besonders macht, ist seine seltene Mischung aus Ruhe und internationalem Flair. Der Ort ist vom Massentourismus weitgehend verschont geblieben, weil er drei Autostunden vom nächsten großen Flughafen entfernt liegt. Dennoch hat sich hier schon vor langer Zeit eine Expat-Kultur etabliert. Die Ausländer haben Pai auf viele Arten mitgeprägt. Zum Beispiel kulinarisch: Hier leben passionierte Gastronomen aus der ganzen Welt. Die Auswahl an Speisen ist im Verhältnis zur Größe des Ortes gigantisch, man bekommt fast alles in sehr guter Qualität. Da ist die winzige Garküche, die Reis mit Hähnchen verkauft, und keine drei Rollerminuten weiter das edle Restaurant mit toskanischem Ambiente, in dem man hervorragendes Steak bekommt. Das schätzen viele Bewohner und essen entsprechend oft auswärts. Wir natürlich auch. Ich habe mir nicht nur einmal vorgenommen, öfter selbst zu kochen, aber es lohnt sich einfach nicht. Thai-Gerichte zum Beispiel sind in den Garküchen unschlagbar günstig und schmecken dort um Längen besser, als ich sie je hinbekommen würde.
Pai liegt im Grünen, man kann hier Fahrradtouren und Wanderungen durch die Natur unternehmen und hat von überall einen fantastischen Ausblick auf die Berge. Natürlich hat sich der Ort in den letzten Jahren verändert: Gab es 2006 zum Beispiel nur einen „7 Eleven“, sind es mittlerweile neun. Auch die Preise haben angezogen. Günstig leben kann man hier aber immer noch und natürlich spielt auch das eine große Rolle für uns: Mit unserem Einkommen erhalten wir hier wesentlich mehr als anderswo. Das nimmt viel Druck im Alltag weg und es lebt sich so einfach entspannter.
Top-Karriere, wenig Freiheit? Nein, Danke.
Es gibt bei allen Annehmlichkeiten auch Dinge, die wir von zu Hause vermissen. Aber eine Sache gehört nicht dazu: Die Ernsthaftigkeit, die man in Deutschland an den Tag legt, und zwar nicht nur in Sachen Arbeit. Das hat uns über die Jahre immer wieder geärgert. Als wir planten, ein zweites Mal für mehrerer Monate zu reisen, kamen von allen vielen Zweifel und die typisch deutschen Sorgen um finanzielle Sicherheit und Rente.
Victoria und ich haben beide sehr erfolgreich BWL studiert. „Warum geht Ihr denn nicht zu BMW oder zu einer Unternehmensberatung?“ Die Frage stand nach dem Studium häufig im Raum. Fast ebenso häufig stieß unsere Antwort auf Unverständnis: „Weil wir keine Lust auf so ein Leben haben.“ Es ist so: Wer gleich nach dem Studium bei einer Unternehmensberatung einsteigt, kann mit 35 Jahren eine Eigentumswohnung kaufen. Aber so ein Job erfordert hundertprozentigen Einsatz. Sabbaticals mag es zwar geben, aber oft vergehen Jahre, bis Interessenten ihre Auszeit nehmen können.
Leben in Thailand: frei arbeiten, frei lernen
Eine Karriere im klassischen Sinne hat uns beide nie gereizt. Schon während des Studiums haben wir nebenbei selbstständig gearbeitet, um später freier schalten und walten zu können. Ich hatte eine kleine Webdesign-Agentur und zusammen betreiben wir seit 2010 eine Rikscha-Firma, über die wir Fahrten durch München vermitteln. Früher sind wir in der Saison auch selbst aufs Rad gestiegen. Von unterwegs arbeite ich ebenfalls als freier Webdesigner und helfe Kunden mit ihrem Internetauftritt. Zusätzlich betreuen meine Frau und ich gemeinsam die Webseite einer Kindermoden-Designerin, mit der wir befreundet sind. Und zu guter Letzt berate ich andere digitale Nomaden.
Nebenbei erzählen wir auf unserem Blog nestingnomads.de von unserem Leben in Thailand. Es geht häufig um die thailändische Kultur und um Tipps zum angemessenen Verhalten als Gast, wir setzen uns dort aber auch mit dem Nomadentum auseinander. Die meisten E-Mails bekommen wir von Familien, die sich für unsere Art zu leben interessieren. Wir können uns den Tag frei einteilen und nach Lust und Laune etwas mit Liam, unserem Sohn, unternehmen.
Hier in Pai interessiert es aber auch niemanden so genau, womit wir unser Geld im Einzelnen verdienen und wie wir unseren Alltag gestalten. Genau das schätze ich an unserem Leben in Thailand: dass wir uns nicht rechtfertigen müssen. Übrigens auch nicht dafür, dass Liam nicht zur Schule geht. In Deutschland führt das meist zu einer Reihe von ungläubigen Fragen, wenn nicht direkt zu Verurteilungen. Hier überwiegt die Neugier, wenn Leute wissen möchten, wie wir es mit der Schulbildung unseres Sohnes halten.
Das Leben in Thailand ist lohnender – vor allem mit Kind
Liam ist Freilerner und eignet sich Wissen je nach Interessen an. Mehrere Familien in unserem Umfeld haben es auch so gemacht und uns inspiriert. Bevor unser Sohn ins Schulkindalter kam, haben wir uns deshalb genau informiert und festgestellt: Es gibt für alles eine Lösung. Er ist aus Deutschland abgemeldet und deswegen auch nicht schulpflichtig. Wir unterrichten ihn zu Hause und haben jederzeit die Möglichkeit, Privatlehrer und -lehrerinnen zu engagieren. Liam spricht mit seinen sieben Jahren Deutsch, Englisch und auch ganz gut Thai. Täte er sich schwer ohne die Strukturen eines Schulalltags, würden wir ihn in einer Schule anmelden. Aber er hat Spaß am freien Lernen und kommt gut voran.
Als er geboren wurde, glaubten Freunde und Familie, dass wir nun ein für allemal in Deutschland bleiben. Stattdessen war unser Kind nur ein Grund mehr, Thailand zu unserem Lebensmittelpunkt zu machen. Bis Liam ein Jahr alt war, wohnten wir durchgehend in München, doch dann zog es uns wieder öfter nach Pai. Zum einen fühlen wir uns im Warmen einfach wohler. Zum anderen ist der Umgang mit kleinen Kindern hier lohnender, sowohl für unseren Sohn als auch für uns als Eltern. Wo wir mit Liam auch hinkamen, in Thailand war er überall der Star. In Deutschland muss man sich fast entschuldigen, wenn man mit einem Kleinkind zum Beispiel in einen Bus steigt. In Thailand stört sich niemand an Kindern, im Gegenteil: Man schenkt ihnen besonders viel Aufmerksamkeit.
Überhaupt mag ich das Miteinander hier sehr. Viele unserer Freunde in Pai haben Lokale. Wir können immer spontan vorbeischauen. Oft kommen andere Freunde dazu, die in der Nähe wohnen, und schon sitzen wir zu zehnt in lustiger Runde, während unsere Kinder spielen. In München dagegen sind spontane Treffen kaum möglich. Mit Glück findet man innerhalb von zwei Wochen einen Termin.
Die meisten unserer Freunde sind westlich-thailändische Paare und Expats wie wir. Wirklich an Thais heranzukommen, finde ich nicht leicht. Ich erlebe sie als sehr freundlich, aber auch als misstrauisch und vorsichtig. Geschäfte machen sie eher mit Landsleuten, Privates tauschen sie auch lieber untereinander aus. Was die Sprache angeht, sind sie tolerant und pragmatisch: Die meisten sprechen gutes Englisch und erwarten von den Zugezogenen nicht, dass sie Thai beherrschen – immerhin eine Sprache, bei der jede Silbe fünf verschiedene Bedeutungen haben kann. Victoria und ich verstehen inzwischen viel, haben die thailändische Sprache aber nie richtig gelernt. Wer weiß, vielleicht holen wir das irgendwann nach.
Nachteile hat Thailand auch: Einer heißt „Smoke Season“
So manches Mal haben wir uns aber auch dafür verflucht, unser Herz an Pai verloren zu haben. Von Mitte Februar bis April ist der Norden Thailands unbewohnbar. Ausgerechnet in der heißesten und trockensten Zeit des Jahres werden Felder und getrocknetes Blattwerk vor der neuen Aussaat abgebrannt. Die Rauchbelastung ist dann so hoch, dass man kaum atmen und sehen kann. Wegen der Tallage zieht der Qualm nicht ab, zumal in diesen Monaten kein Lüftchen weht. Von Jahr zu Jahr wird die „Smoke Season“ schlimmer. Viele Menschen landen mit Atemwegsbeschwerden im Krankenhaus. Auch die Einheimischen verlassen Pai für ein paar Wochen, sofern ihnen das irgendwie möglich ist. Wir fliehen meist ans Meer, dieses Jahr waren wir auf Ko Phayam.
Auch die medizinische Versorgung ist nicht ideal. Eine gute Infrastruktur und geölte Abläufe, wie wir sie aus Deutschland kennen, gibt es nicht. Zum nächsten gut ausgestatteten Krankenhaus in Chiang Mai sind es drei Stunden Fahrt und 762 Kurven, etliche Schlaglöcher und Staub inklusive. Sollte einer von uns schwer erkranken, stellt uns das vor mehrere Probleme. Das zu wissen, fühlt sich nicht so gut an, ist für uns dann wiederum aber auch kein Grund, nicht hier zu sein. Im Leben passieren einem Dinge, von denen sich viele selbst unter optimalen Bedingungen nicht verhindern lassen. Mit etwas Umsicht und Eigenverantwortung können wir auch hier nachts ruhig schlafen.
Es mangelt in Thailand und besonders in Pai außerdem an Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Seit neuestem gibt es einen Mini-Skatepark, für andere Unternehmungen müssen wir aber nach Chiang Mai fahren. Dort wiederum kosten Angebote wie der Besuch einer Kletterhalle fast so viel Geld wie in München. Das können sich nur reiche Thais und Ausländer öfter leisten. Der Mangel bedeutet aber nicht, dass die Kinder in Pai unglücklich sind. Sie verbringen die meiste Zeit mit Freunden in der Natur und brauchen im Grunde auch nicht viel mehr.
Leben in Thailand und anderswo: Hinterfragen, neu bewerten
Ob wir in fünf Jahren noch hier sind, weiß ich nicht. Im Augenblick sind wir hier sehr glücklich. Das Entscheidende ist wohl, dass unser Alltag viel Abwechslung bietet. So haben wir nie das Gefühl, auf den nächsten Urlaub hinarbeiten zu müssen. Lehrreich ist das Leben in Thailand auch: Ich gehe heute zum Beispiel anders mit dem Gefühl des Fremdseins um. Sieht man einmal vom Freundeskreis ab, fühle ich mich in Thailand noch immer oft wie ein Besucher. Ich bin die Langnase, der Fremde, der Andere, ich komme immer erst einmal einmal in die Schublade „weißer Touri“. Anfangs fühlte ich mich hin und wieder auf den Schlips getreten, inzwischen nehme ich mich selbst nicht mehr so wichtig. Für meinen Sohn freut es mich ungemein, dass seine Freunde aus fünfzehn Nationen kommen. Für ihn gibt es keine Hautfarben und wer woher kommt, spielt für ihn keine Rolle. Er hat kein absolut kein Problem, mit Kindern zu spielen, deren Sprache er nicht versteht und wird sich vermutlich später als Erwachsener nicht als Deutscher oder Thailänder definieren, sondern einfach als Mensch.
Das Leben in der Ferne hat mich zum Neubewerten und Hinterfragen von Dingen gebracht, die ich vielleicht viel länger einfach hingenommen hätte, hätte ich immer am selben Ort gelebt. Was ich wirklich brauche und was mich glücklich macht, wurde mir erst in Thailand so richtig klar. Ich habe gelernt, die äußere Stimme abzustellen, die mir gesagt hat, was vermeintlich zu einem glücklichen Leben gehört. Seitdem höre ich auf meine eigene Stimme – und auch diese hinterfrage ich regelmäßig. Wir verbringen nach viele Monate im Jahr in Thailand, reisen aber dennoch auch an andere Orte auf der Welt und ich empfinde das als sehr bereichernd. Jeder Szenenwechsel bringt neue Ideen und eine veränderte Sichtweise mit sich. Das ist jedes Mal wie eine Kur für die Seele und den Geist.
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(Alle Fotos © nestingnomads.de)
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Danke. Ich bin oefters in Bangkok zu Besuch und wollte immer schon mal ausserhalb umsehen. Werde ich machen. Gruesse aus Neuseeland
ich wünsche viel Spaß dabei!
Wir sind mit 52 nach Ban Chang Rayong Thailand ausgewandert jetzt sind wir 53, also genau 1 Jahr und wir wollen auch nicht mehr zurück.
Tolle Story!
LG
Vielen Dank und noch viele schöne Momente dort!
wir sind seit Jahren immer 4, manchmal, zumindest ich, 8 Wochen in Maenam. Wunderbar ruhig und einfach dort. Immer eine Wohltat nach dem hektischen Leben mitten in Schwabing. Ab 2021 geht es dann erst einmal für 6 Monate am Stück nach Maenam ( Rentenbeginn meines Mannes ), und in der Zeit werden wir unsere Wohnung in München möbliert vermieten. Ich möchte auf jeden Fall so lange wie möglich unten bleiben, am liebsten ganz, und zwar aus genau den Gründen, die ihr in euerem Essay angebt. Nur dass bei mir noch hinzukommt, dass ich seit 5 Jahren tierische Rückenprobleme habe, die… Read more »
Liebe Anita,
das klingt sehr entschlossen und dass es Dir dort besser geht, kann ich mir gut vorstellen. Ich hoffe auch, dass das so läuft, wie Ihr Euch das vorstellt – und Deine Zustimmung zum hier Gesagten richte ich Christian und Victoria gern aus! Viele Grüße zurück aus Kathmandu! Susanne
Wie wunderbar. Ich bin gerade mit meinem 5-jährigem Sohn für eine Woche in Pai und es gefällt uns so gut hier. Nach Bangkok und Chiang Mai strahlt die Stadt eine solche Gelassenheit aus.
Es ist so spannend über andere Lebenskonzepte und die Gedanken dazu zu lesen. Ich empfinde das unglaubliche Bereicherung.
Alles Gute für Euch und viele Grüße
Simone