Zuletzt aktualisiert am 10. September 2023 um 19:59
In ihrem weltweit erfolgreichen Bestseller „Wild“, auf deutsch erschienen als „Der große Trip“, erzählt Autorin Cheryl Strayed von ihrer dreimonatigen Solo-Wanderung auf dem Pacific Crest Trail. Selten hat mich ein Buch so ratlos zurückgelassen. (Achtung: Spoiler!)
„Der große Trip“ ist ein Mega-Bestseller
Der Kassenbon, den ich als Lesezeichen benutzt habe, ist mittlerweile verblasst, man kann das Datum gerade eben noch erkennen: Ich habe „Wild“, die Memoiren der US-amerikanischen Autorin Cheryl Strayed, am 26. Januar 2015 bei Chapters in Vancouver gekauft. Erst ein paar Wochen zuvor war die gleichnamige Verfilmung mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle ins Kino gekommen. Statt des hellbraunen Wanderstiefels, der eigentlich auf dem Cover von „Wild“ prangt, ziert meine (englischsprachige) Ausgabe deshalb eine Szene aus dem Film: Reese Witherspoon läuft als Cheryl Strayed mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken durch die Mojave-Wüste.
„Wild: From Lost to Found on The Pacific Crest Trail“ wurde im März 2012 veröffentlicht und kam ein Jahr später auf deutsch als „Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst“ auf den Markt. Schauspielerin und Produzentin Reese Witherspoon hatte sich die Rechte für eine Verfilmung schon gesichert, als das Buch noch nicht einmal erschienen war. Im Juni 2012 empfahl die US-Moderatorin Oprah Winfrey ihren Abermillionen Zuschauern Cheryl Strayeds Memoiren. Erwartungsgemäß schoss „Wild“ kurze Zeit später auf Platz eins der Bestseller-Listen. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt und war spätestens nach dem Hollywood-Film so bekannt wie Elizabeth Gilberts ebenfalls verfilmter Bestseller „Eat, Pray, Love“.
„Der große Trip“: Worum geht’s in den Memoiren von Cheryl Strayed?
In „Der große Trip“ erzählt die Autorin von ihrer dreimonatigen Solo-Wanderung auf dem Pacific Crest Trail (PCT), einem Fernwanderweg in den USA, der sich an der Pazifikküste von Mexiko bis Kanada erstreckt. Cheryl Strayed ist ihm 1995, mit 26 Jahren, auf 1100 Meilen durch Kalifornien und Oregon gefolgt. Sinn und Zweck ihrer abenteuerlichen Reise: Abstand gewinnen, nachdenken können, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen lenken. Der plötzliche Krebstod ihrer Mutter vier Jahre zuvor hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Unfähig, ihre Trauer zu verarbeiten, hatte die junge Frau ihren College-Abschluss verpasst, ihren Ehemann betrogen, sich scheiden lassen, abgetrieben, Drogen genommen und war ziellos von Bundesstaat zu Bundesstaat, von One Night Stand zu One Night Stand gezogen.
Kritik an „Der große Trip“
Eine Frau, die beschließt, sich ihren Abgründen zu stellen – zumal eine, die ganz allein in die Wildnis aufbricht: Für mich war klar, dass ich das Buch lesen musste. Eigentlich wollte ich es damals auch hier auf dem Blog vorstellen. Beim Lesen blieb ich jedoch merkwürdig distanziert gegenüber der Geschichte und ihrer Erzählerin, ohne genau sagen zu können, was mich daran störte. Am Ende schrieb ich keine Zeile.
Vor ein paar Wochen stieß ich wieder auf „Der große Trip“, als ich sah, dass die Verfilmung zurzeit bei Netflix verfügbar ist. Das Drehbuch des britischen Autors Nick Hornby finde ich gelungen und Hauptdarstellerin Reese Witherspoon brilliert in der Rolle der traumatisierten Frau, die auf dem PCT buchstäblich Schritt für Schritt auf ihren Weg zurückfindet.
Videos werden von YouTube eingebettet. Sehen Sie sie hier an, wird Ihre IP-Adresse an den Betreiber des Portals gesendet. Siehe Datenschutzerklärung.Ich beschloss, dem Buch eine zweite Chance zu geben. Gleichzeitig forschte ich nach kritischen Stimmen im Netz, um zu ergründen, wie andere die Reiseerzählung empfunden haben.
„Der große Trip“ ist kein Wanderführer
Mit den meistgenannten Kritikpunkten konnte ich dann aber wenig anfangen. Viele Leser:innen waren zum Beispiel enttäuscht, weil Cheryl Strayed nicht sehr ausführlich über das Wandern auf dem Pacific Crest Trail, sondern vor allem über ihre Erinnerungen an ihre Mutter und über ihren Schmerz schreibt. Das kann ich nicht nachvollziehen: Bei „Der große Trip“ handelt es sich eindeutig um Memoiren und nicht um einen Wanderführer.
„Der große Trip“ ist ein feministisches Buch
Ärgerlich fand ich auch, wie viele die Autorin für ihre Sexualität verurteilen. Sex ist ein immer wiederkehrendes Thema in Cheryl Strayeds Memoiren. Sie erzählt offen, dass sie ihre Ehe mit ihren Seitensprüngen zerstört und auch danach mit „zu vielen Männern“ geschlafen habe. Sie wagt es dennoch, auch auf dem PCT an Sex zu denken. Leser:innen kritisieren die Autorin für zwei Dinge besonders scharf: Dass sie sich am Krankenbett ihrer sterbenden Mutter Sex mit einem Pfleger vorstellt und dass sie – die Ehebrecherin, die auch noch abgetrieben hat – auf dem Pacific Crest Trail eine Rolle Kondome mit sich herumträgt.
Ja, man kann Cheryl Strayed zutiefst unsympathisch finden, weil sie etliche Male fremdgegangen ist. Man kann den Gedanken an Sex mit einem Krankenpfleger am Sterbebett der Mutter geschmacklos finden. Man kann irritiert darüber sein, dass die Autorin ihre Abtreibung nur ein einziges Mal erwähnt – und zwar im selben Satz, in dem sie diverse Reisevorbereitungen abhandelt („I got an abortion and learned how to make dehydrated tuna flakes and turkey jerky and took a refresher course on basic first aid and practiced using my water purifier in my kitchen sink.“). Es kommen sicher auch nicht alle, die zu einer anstrengenden Wanderung auf einem Wildnispfad aufbrechen, darauf, Kondome einzupacken. Aber die Aufregung wäre nicht mal halb so groß, hätte ein Mann das Buch geschrieben.
Cheryl Strayed hat Nachahmer angestiftet
„Der große Trip“ ist offenbar unter Langstreckenwanderern nicht sonderlich beliebt. Viel Kritik kommt von Männern und Frauen, die selbst auf dem PCT gewandert sind oder in der Nähe des Fernwanderwegs leben. Sie werfen Cheryl Strayed vor, nicht nur völlig unvorbereitet und naiv zu ihrer Reise in die Wildnis aufgebrochen zu sein, sondern ihre Fehler auch noch glorifiziert zu haben. Und sie geben ihr die Schuld daran, dass andere Möchtegern-Wanderer ebenso unvorbereitet losziehen und sich in der Wildnis in Gefahr bringen.
Es stimmt, dass die Autorin vermeidbare Fehler gemacht hat – angefangen bei zu kleinen Wanderschuhen über unpassendes Equipment bis hin zu der Tatsache, dass sie ihren Rucksack nie zuvor probegepackt und auch keine Testwanderungen unternommen hat.
Man muss aber berücksichtigen, dass Cheryl Strayed ihre Wanderung 1995 unternommen hat – zu einer Zeit also, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte. Foren, Facebook-Gruppen und Blogs, in denen Hiker sich vernetzen und einander Tipps geben, gab es damals ebenso wenig wie Google Maps und Smartphones. Strayeds Vorbereitungen vor dem Hintergrund der heutigen Möglichkeiten zu beurteilen, erscheint mir nicht ganz fair. Die Autorin hat sich immerhin in einem Fachgeschäft beraten lassen, hat Ausrüstung und Guide-Buch gekauft, ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse aufgefrischt und Pakete mit Essensvorräten vorbereitet, die sie sich zu den Poststationen entlang des Trails schicken ließ.
Womöglich hätten dem Buch ein paar Hinweise darauf gut getan, wie wichtig eine gute Vorbereitung ist. Dann wiederum ist der Text ein persönlicher Bericht. Es geht darum, wie sie, Cheryl Strayed, ihre Reise damals angegangen ist, mit allen Verfehlungen und Versäumnissen. Und, mal ehrlich, muss eine Autorin wirklich Verantwortung übernehmen, wenn Leser:innen ihr nacheifern, ohne sich anderweitig informiert und selbst ihr Gehirn eingeschaltet zu haben?
Cheryl Strayed ist mehr getrampt als gewandert
Einige Leser:innen stören sich an diversen vermeintlichen Ungereimtheiten im Buch. So sollen Strayeds Kilometerangaben an mehreren Stellen nicht stimmig sein. Die Autorin habe sich zudem nur dort namentlich eingetragen, wo die Trail-Register gut mit dem Auto erreichbar sind. Noch dazu finden sie es verdächtig, dass es kaum Fotos von Strayeds Reise gibt, obwohl sie mehrfach von der teuren Kameraausrüstung erzählt, die sie extra für den Trip gekauft und auch eingepackt hat.
Auch seltsam: Cheryl Strayed wandert häufig ausgerechnet dort allein, wo der PCT nicht weit weg von der nächsten Straße entfernt liegt. Und: Sie hat die meiste Zeit keinen Trail-Namen, obwohl Langstrecken-Hiker auf einem Fernwanderweg traditionell ganz früh so einen Spitznamen bekommen. Das alles legt den Verdacht nahe, dass Strayed nicht einmal annähernd die Strecke gewandert ist, die sie vorgibt gelaufen zu sein. Für mich ist das kaum nachprüfbar. Sollte das allerdings stimmen, vermittelt ihr Buch wirklich einen falschen Eindruck von der Machbarkeit des Wildnispfades für ganz Unerfahrene (siehe vorheriger Kritikpunkt).
„Der große Trip“: Mehr Fiktion als Fakten?
Cheryl Strayed gibt in ihrem Buch an, über einen längeren Zeitraum Heroin gespritzt zu haben, bevor sie ihre Reise antrat. Den letzten Schuss will sie sich sogar so kurz vor ihrem Aufbruch gesetzt haben, dass sie während der Wanderung noch immer einen blauen Fleck an der Einstichstelle an ihrem Fuß sehen kann. Das nehmen ihr viele Leser und Leserinnen nicht ab. Sie argumentieren: Heroin macht unheimlich schnell abhängig und wer entzieht, ist körperlich nicht in der Lage, Hunderte Kilometer in der Wildnis zu bewältigen.
Das ist nicht der einzige Teil der Geschichte, den kritische Stimmen für unglaubwürdig halten. Es gibt zum Beispiel auch Zweifel daran, dass sie im August Bogenjäger auf dem Pfad getroffen hat – diese jagen nämlich nachweislich erst viel später in der Gegend. Viele stellen auch an andere Begegnungen und den Wahrheitsgehalt der wiedergegebenen Dialoge infrage. Strayed hat ihr Buch 17 Jahre nach der Wanderung veröffentlicht und sich beim Schreiben angeblich auf ihre Tagebuchnotizen gestützt. Da liegt es nahe, dass sie so einiges im Nachhinein zugespitzt und Erinnerungslücken mit Ausgedachtem gefüllt hat.
Cheryl Strayed, die unverbesserliche Narzisstin
Folgendes ist am Ende wohl auch mein größtes Problem mit dem Buch: Vielen ist die Autorin schlichtweg unsympathisch und ihre Sicht- und Herangehensweisen unverständlich. Cheryl Strayed, die sich ihren wenig subtilen Nachnamen nach ihrer Scheidung selbst ausgesucht hat, schmeißt zum Beispiel ihren Wanderstiefel einen Hang hinunter, nachdem ihr der andere abhanden gekommen ist. Das zeugt nicht gerade von Respekt vor der Natur. Ihr eigenes Verhalten – und das ist die Regel im gesamten Buch – stellt sie im Anschluss auch nie infrage.
Hinzu kommt, dass nahezu jede andere Person auf dem Trail nur eine Funktion zu haben scheint: Cheryl zu sagen, wie großartig, wunderschön und klug sie ist. Sie wird nicht müde, es bei jeder Gelegenheit zu erwähnen. Alle bewundern sie, fast alle wollen ihr helfen und das scheint sie auch ganz selbstverständlich zu finden. Wirklich dankbar für die Hilfe der anderen zeigt die Autorin sich jedenfalls selten.
Viele Sympathien verliert sie an der Stelle, an der sie erzählt, was mit dem geliebten Pferd ihrer toten Mutter passiert ist: Obwohl ihre Mutter sich nichts mehr gewünscht hatte, als dass sich nach ihrem Tod jemand um die Stute „Lady“ kümmert, war das Tier wenige Jahre später abgemagert, krank und verwahrlost. Angeblich fehlte das Geld für einen Tierarzt, der eine Tötung fachgerecht vornehmen hätte können. Auf Cheryls Anraten erschießt deshalb kurzerhand ihr Bruder das Pferd – das lange leiden muss, bevor es endlich stirbt. Abermals sieht Cheryl - so sehr Ladys qualvoller Tod sie auch beschäftigt - bei sich selbst im Nachhinein keinen Fehler.
Rückblickend würde sie nichts anders machen, schreibt sie am Ende des Buches. So halten viele, die „Der große Trip“ nichts abgewinnen konnten, Cheryl Strayed für eine Narzisstin, die auf dem PCT nichts gelernt und sich kein Stück verändert hat, die sich im Selbstmitleid suhlt, aber keine Verantwortung für ihr Fehlverhalten übernehmen will.
Und ich? Ich bin nach all diesen Überlegungen noch immer etwas ratlos. Bis heute fällt es mir schwer, kurz und knapp in Worte zu fassen, was ich von dem Buch halte. Deshalb interessiert mich: Hast Du „Der große Trip“ gelesen? Wie hast Du die Geschichte und die Autorin empfunden? Schreib es mir gern in die Kommentare!
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Hallo! Offenbar scheinen die LeserInnen des Buches ebenso ratlos zu sein, da es bis jetzt kein Kommentar gibt. Und mir geht es ehrlich gesagt nicht viel anders. Trotzdem habe ich mich jetzt kurzfristig entschlossen, doch noch meinen Senf dazuzugeben. Vorangestellt muss ich gestehen, dass ich das Buch dieses Wochenende “verschlungen” habe. Das hat aber auch viel mit meiner derzeitigen Lebenssituation zu tun und damit, dass ich ein begeisterter Berggeher bin, aber der PCT, bzw. die Durchwanderung selbigen, wohl ein unerfüllbarer Traum für mich bleiben wird, aus diversen Gründen. Aber gut. Hier geht´s ja nicht um meine persönlichen Befindlichkeiten, sondern um… Read more »
p.S.: zu meinem Kommentar. Ich habe nochmals darüber nachgedacht, warum auch ich beim Lesen des Buches so seltsam distanziert zur Protagonistin und ihrem Machwerk geblieben bin und ich glaube einen wesentlichen Grund hierfür gefunden zu haben - es ist die Sprache in der das Buch geschrieben ist. Der Sprache fehlt es weitgehend völlig an Esprit und Wortwitz. An (bissiger) Selbstironie, die wohl an einigen Stellen als gelungene und sympathische Selbstreflexion ganz gut getan hätte. So weit ich weiß, ist Cheryl Strayed hauptberuflich Kolumnistin und genau das kommt sehr stark im Buch durch. Manche Passagen im Buch lesen sich tatsächlich mehr… Read more »