Zuletzt aktualisiert am 10. September 2023 um 19:57
2015 wurde Nepal von einem verheerenden Erdbeben erschüttert, fast 9000 Menschen starben, unzählige Häuser und Tempel wurden zerstört. Kurz vor dem vierten Jahrestag 2019 hat die Erde wieder hier gebebt – nicht zum ersten Mal, seit ich in Kathmandu lebe. Wie sieht das Kathmandutal heute aus, was sehen Reisende noch von den Schäden und wie steht es um die Erdbebengefahr in Nepal? Ein Überblick.
Erdbeben in Nepal: Wie sieht das Kathmandutal heute aus?
Am 25. April und am 12. Mai 2015 wurde Nepal von Erdbeben der Stärken 7,8 und 7,2 erschüttert. Fast 9000 Menschen starben, mehr als 22.000 wurden verletzt, Hunderttausende Häuser und religiöse Stätten beschädigt oder zerstört. Die Wucht der Erdstöße wird auch deutlich, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Der Gipfel des Mount Everests verschob sich infolge der Beben 2015 um drei Zentimeter nach Südwesten, die Hauptstadt Kathmandu ist einige Meter nach Süden gerutscht und liegt heute einen Meter höher.
Etwa zweieinhalb Jahre nach den Erdbeben, im Oktober 2017, war ich zum allerersten Mal im Kathmandutal, der am schlimmsten betroffenen Region. Vor meiner Reise fragte ich mich, wie viel ich dort von den Schäden noch sehen würde. Ich hatte Medienberichte verfolgt, laut denen der Wiederaufbau nur schleppend voranging und der Großteil der Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, auch zwei Jahre später noch in Notunterkünften lebte.
Deshalb hatte ich mir die Situation weitaus schlimmer vorgestellt und empfand die Zerstörung insgesamt als weniger präsent, als ich angenommen hatte. Das war allerdings mein Eindruck als Touristin, die damals zum ersten Mal im Kathmandutal war. Darüber hinaus bin ich bei diesem ersten Besuch auch nur in die Königsstädte Kathmandu, Patan und Bhaktapur gereist, nicht aber in die umliegenden Dörfer, von denen einige fast vollständig zerstört wurden.
Die Folgen der Erdbeben waren aber auch in den touristischen Zentren nicht zu übersehen: Auf den Durbar Squares, den Herzstücken der Königsstädte, stützten damals (und auch aktuell noch) Holzbalken die verbliebenen Tempel. Vereinzelt klaffen bis heute in den angrenzenden Straßen Lücken in Häuserzeilen oder es liegt ein Steinhaufen dort, wo früher mal ein Haus stand. Berühmte Plätze und erhaltene Sehenswürdigkeiten waren aber auch 2017 schon alle begehbar, die Straßen und Wege überall vom Schutt befreit.
Wer die Region – im Gegensatz zu mir – vor den Erdbeben kannte, vermisst sicher schmerzlich den schlanken, neunstöckigen Dharahara Tower im Panorama von Kathmandu, um nur eines von vielen Bauwerken zu nennen, die es heute nicht mehr gibt. (Update: Der Dharahara Tower ist wieder aufgebaut worden und wird im April 2021 eingeweiht!) Auch die drei Durbar Squares, allesamt UNESCO-Weltkulturerbestätten, haben einen Teil ihrer ursprünglichen Pracht leider eingebüßt – in Kathmandu ist der Großteil der 50 Tempel und Pagoden, die den Platz vorm Königspalast einst schmückten, eingestürzt.
Die nepalesische Regierung will die historischen Stätten mit Originalmaterialien und in traditioneller Bauweise wieder aufbauen. Zu den bereits vollständig reparierten Bauwerken zählt der Stupa von Boudhanath, das größte buddhistische Heiligtum des Landes und eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Kathmandu: Im November 2016 hat man den Stupa, dessen goldene Spitze beim Erdbeben beschädigt wurde, wiedereröffnet.
2019, vier Jahre nach dem Beben: ernüchternde Bilanz
Seit März 2019 lebe ich mittlerweile in Nepal. Alles Mögliche bin ich seitdem gefragt worden. Wie das Essen so schmeckt und ob ich es gut vertrage, wie kalt es hier im Winter wird, wie der Verkehr in Kathmandu ist (schlimm) und ob ich auch bald mit dem Roller durch die Straßen düse (nein).
Ob ich Angst vor einem Erdbeben habe, hat mich hingegen nie jemand gefragt. Mich selbst beschäftigt das Thema jetzt natürlich häufiger. Kein Wunder – hier gibt es vor ihm schließlich kein Entkommen, schon gar nicht im Frühjahr, wenn sich die Katastrophe in Nepal jährt.
Regelmäßig ziehen dann auch die Medien hier Bilanz und ich habe die touristische Brille nicht zuletzt ihretwegen längst abgelegt. Sie fragen, warum der Wiederaufbau stockt und wohin Spendengelder versickern. Sie porträtieren Menschen, die alles verloren und bis heute nicht zur Normalität zurückgefunden haben. Sie empören sich, weil viele Kinder noch immer in Notkabuffs lernen, seit das Beben weit mehr als 5000 Schulen zerstört hat.
Und: Sie legen eindrucksvoll dar, dass Nepal im Falle eines weiteren Erdbebens nicht im Geringsten vorbereitet ist. Denn noch immer wird nicht konsequent erdbebensicher gebaut und öffentliche Einrichtungen nicht angemessen für den Ernstfall ausgestattet, noch immer fehlt es an Fluchtwegen, Vorräten und Werkzeuge zum Graben. „Wir haben offenbar noch immer nicht begriffen, wie viel Glück wir hatten, dass das Erdbeben an einem Samstag passiert ist. Tagsüber noch dazu“, kommentiert etwa die Wochenzeitung Nepali Times, „Lessons unlearnt“ heißt der Beitrag.
Quälende Erinnerungen an 2015
„Zum Glück war es ein Samstag“, das habe ich auch von nepalesischen Freunden oft gehört. Vielen fällt es schwer, über das Erdbeben zu reden. „Erinnere mich bloß nicht daran“, sagt ein Freund, als wir auf den Jahrestag zu sprechen kommen – und wenig später sprudeln die verdrängten Bilder und Gedanken doch aus ihm heraus. Er erzählt von der Angst um seine Mutter, die er vom oberen Stockwerk ihres Hauses die Treppe hinuntergetragen hat, weil sie sich, im Schock erstarrt, nicht bewegen konnte. Bis heute sucht er das Weite, wenn eine Waschmaschine im Schleudergang läuft und den Boden in Schwingungen versetzt.
Auch der Mann, den ich liebe, hat das Erdbeben erlebt. An jenem Samstag war er im Moksh, einem Club im Herzen des Szene-Viertels Jhamsikhel, in dem später ein Konzert mit Jazzmusikschülern stattfinden sollte. „Ich bin sofort nach draußen gerannt“, erinnert er sich an die Sekunden, als alles zu wackeln begann. „Ich habe mich vor dem Moksh auf den Boden gesetzt, stehen ging nicht.“ Immer wieder gab es im Anschluss Nachbeben. Die Handynetze waren zusammengebrochen, vor Ort konnte niemand seine Familie erreichen. Hinzu kam das unerträgliche Bangen, dass das halbfertige Hotel gegenüber, ein zehnstöckiges Hochhaus, womöglich auf sie herabstürzen könnte. Nicht mal im Ansatz kann ich mir vorstellen, wie schrecklich all das gewesen sein muss.
Erdbeben in Nepal: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit?
Kann sich so etwas wiederholen? Wie wahrscheinlich sind weitere Erdbeben, wie hoch ist in naher Zukunft die Erdbebengefahr in Nepal? Leider hoch. Die Ursachen von Erdbeben sind, neben Vulkanismus, in der Regel tektonische Verschiebungen, das heißt, Erdplatten reiben aneinander und dadurch baut sich immense Spannung auf. Das kleine Land Nepal liegt auf der Bruchkante zwischen der Indischen und der Eurasischen Platte, mit aller Macht schiebt sich die eine unter die andere. Die Spannung, meinen Experten, habe sich 2015 vom Epizentrum, das sich 80 Kilometer nordwestlich von Kathmandu befand, nach Osten hin entladen, sodass es im Osten in naher Zukunft wohl keine starken Beben geben wird.
Sorgen macht ihnen aber Nepals Westen: Auf einer Strecke von mehr als 800 Kilometern westlich der Hauptstadt staue sich der Druck seit mehr als 500 Jahren auf. In diesem Teil von Nepal sei die Erdbebengefahr hoch, ein Beben der Stärke 8,5 in den nächsten Jahren möglich. Besonders gefährdet ist diesem Beitrag zufolge die Region zwischen Pokhara und Dadeldhura. Das Gorkha-Beben von 2015 habe sogar erst die Voraussetzungen für ein noch viel stärkeres Erdbeben geschaffen. Was das für Kathmandu bedeutet? Ich weiß es nicht, ich möchte nicht dran denken.
Ich lebe in Kathmandu – und, ja, ich habe manchmal Angst
Mehr als 44.000 Nachbeben hat es seit dem 25. April 2015 gegeben, die Liste setzt sich sogar heute noch fort. Zwei von sechs kleineren Erdbeben habe ich wahrgenommen, seit ich in Nepal lebe. Am 18. März 2019, als ich noch keine drei Wochen in Kathmandu wohnte, stand ich vormittags im Wohnzimmer und spürte einen Ruck. Mir schoss das Bild eines LKWs in den Kopf, der dicht vor unserem Haus durch ein Schlagloch fährt. Erst später, als mein Freund mir schrieb, es habe wohl gerade ein Erdbeben gegeben, war mir alles klar.
Zuletzt ist es ausgerechnet am Tag vor dem Jahrestag der Katastrophe von 2015 passiert: Es war morgens, 6.29 Uhr, ich war auf dem Weg zur Arbeit, lief zügig eine Straße entlang. Körperlich habe ich diesmal nichts gespürt – wohl nicht ungewöhnlich, wenn man läuft –, aber als ich Menschen sah, die schreiend aus ihren Häusern rannten, wusste ich Bescheid. Das Beben hatte die Stärke 5,2, mein Freund ist davon aufgewacht. Zwölf Minuten später und dann noch mal am Nachmittag folgten weitere, schwächere Erschütterungen. Ebenfalls Nachbeben von damals, zum Glück immer nur kurz.
Und doch, die Antwort auf die Frage nach der Angst, sie lautet „Ja.“
Nepal nach den Erdbeben: Mehr denn je eine Reise wert
Ob man trotzdem nach Nepal reisen kann und sollte? Das Auswärtige Amt schreibt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen zu Nepal:
„Nepal liegt in einer seismisch aktiven Zone, insbesondere das Himalaya-Gebiet gilt als stark erdbebengefährdet. Im Falle eines schweren Erdbebens muss davon ausgegangen werden, dass medizinische Einrichtungen und generelle Notfallausstattungen überlastet sind.“
Das Risiko ist klar benannt, und Reisende müssen natürlich selbst entscheiden, ob sie es eingehen. Für mich ist das eine schwierige Frage, denn grundsätzlich empfehle ich Nepal als Reiseziel natürlich unheimlich gern. Selbst wenn der das Land einen Teil seines historischen Erbes für immer verloren hat und die Bauarbeiten noch Jahrzehnte andauern, ist Nepal samt dem schwer getroffenen Kathmandutal noch immer unbedingt sehenswert. Die Newari-Architektur mit ihren Holzschnitzereien ist hier nach wie vor allgegenwärtig. Dasselbe gilt, trotz der Verluste, für Tempel und Pagoden – es gibt ganz einfach unendlich viele im Tal.
Einige der bedeutendsten Anlagen haben die Erdbeben zudem unbeschadet überstanden – der Nyatapola-Tempel in Bhaktapur etwa oder Pashupatinath in Kathmandu.
Nepal ist und bleibt einzigartig. Hinzu kommt: Wer sich davon auf einer Reise selbst überzeugt, tut zugleich etwas für den Wiederaufbau. Der Tourismus ist die zweitwichtigste Einnahmequelle des Landes, und kaum etwas hilft den Menschen, die ihre Häuser verloren haben, jetzt so sehr wie Urlauber, die mit ihrem Geld die Wirtschaft wieder ankurbeln und Arbeitsplätze sichern.
***
Nepal heute: Hast Du das Land nach den Erdbeben besucht? Falls ja, erzähl mir gern, wie Du das Land erlebt und ob Du noch Schäden gesehen hast – ich freue ich mich sehr über einen Kommentar!
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Gute Zusammenfassung des aktuellen Zustands.
Ich selbst war von Mitte November 2014 vier Wochen in Nepal u.a. auch in Kathmandu.
Nach knapp sechs Jahren werde ich Ende September wieder dorthin zurückkehren.
Kathmandu ist definitiv eine Reise wert.
Hallo Oliver, vielen Dank. Dann hast Du Kathmandu ja noch mit Dharahara-Tower und intaktem Durbar-Square gesehen und wirst, wenn Du kommst, einen Vergleich haben. Ich wünsche Dir jetzt schon eine gute Reise!
Ich habe deinen bericht gelesen und er hat mir sehr gefallen…besonders die schilderung des verkehrs..ich seh mich noch damals an der strasse stehen und komm und komm nicht rüber..und dann wie ein gehetzter hase.… war krass
Hallo Doris, Du meinst dann aber einen anderen Bericht hier auf dem Blog, nicht diesen zum Erdbeben. Aber vielen Dank, freut mich! Ja, es ist nicht einfach, man muss die Hand in Richtung Fahrer:innen ausstrecken, dann geht’s besser. :)
Hallo Susanne,
unser für 2020 geplanter Flug nach Nepal ist ausgefallen. Es gibt bis heute keine Möglichkeit in das Land zu reisen. Erst vom Erdbeben hart getroffen und jetzt Corona.… Wenn du noch dort bist und helfen kannst, spende ich auch geren in die Kaffeekasse. Über eine Nachricht von dir freue ich mich.
Liebe Pia,
das tut mir sehr Leid, dass die Reise ausfallen muss. Ich hoffe, Ihr könnt sie nachholen! Ich bin noch in Nepal, ja. Die Kaffeekasse ist nur zum Erhalt dieses Blogs gedacht. Ich habe hier vor Ort zwar selbst auch gespendet, ich wickle aber keine Spenden ab. Allerdings habe ich auch einen langen Beitrag über die Corona-Situation in Nepal geschrieben, an dessen Ende Du Organisationen findest, die ich empfehle. Dorthin könntest Du direkt spenden. Der Beitrag ist hier: https://fluegge-blog.de/coronavirus-nepal/ Alles Liebe!
Hallo, hab lieben Dank für all die tollen Informationen (welche wir ch leider viel zu spät entdeckt habe). Ich mache mich morgen bereits auf den Weg nach Lukla (EBC trek), und bin Anfang April wieder in Thamel. Beste Grüße, Thorsten
Gern. Dann viel Spaß!
Schöner Artikel! Wir waren Anfang November für 2 Wochen in Nepal, Kathmandu, Patan, Trekking in der Annapurna Conservation Area, Pokhara, Bhaktapur. Wir waren sehr erschrocken über die Armut im Land und sehr beeindruckt, wie tapfer die Nepali mit den Umständen umgehen. Die Erdbebenspuren (Ziegelhaufen und Holzbalken wie Mikadostäbe) waren überall zwar noch zu sehen, aber es sah nicht völlig hoffnungslos aus. Alles Gute! Martina & Tom
Liebe Martina, lieber Tom,
da habt ihr aber viel geschafft in zwei Wochen. Der Beitrag ist inzwischen auch mehrere Jahre alt und ich bin seit einem Jahr auch wieder zurück - gut möglich, dass die gezeigten und beschriebenen Orte heute auch wieder ganz anders aussehen. Danke, dass du eure Eindrücke geteilt hast und alles Gute auch für euch!