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Nepals ungeklärte Tragödie: Das Massaker im Königshaus

15. Oktober 2019
Der König von Nepal lebte im Narayanhiti Palace

Zuletzt aktualisiert am 29. Oktober 2023 um 15:36

Am 1. Juni 2001 soll Kronprinz Dipendra einen Massenmord verübt haben, bei dem zehn Mitglieder der nepalesischen Königsfamilie starben. Der Vorfall stürzte Nepal in eine Krise und läutete das Ende der Monarchie in dem Himalaya-Staat ein. Bis heute sind die Umstände der Tat weitgehend unklar. Besuch im Narayanhiti Palace, dem Ort des Geschehens in Kathmandu.

  Das Massaker im Königspalast und seine Folgen

Die offizielle Version geht so: Am Abend des 1. Juni 2001 kamen etwa zwanzig Angehörige der nepalesischen Königsfamilie und ein paar Freunde zu einem Dinner im Narayanhiti Palace in Kathmandu zusammen. Kronprinz Dipendra, damals 29 Jahre alt, soll sich betrunken und so daneben benommen haben, dass man ihn fortschickte. Mehrere Verwandte begleiteten ihn in seine Wohnung im oberen Stockwerk des Gebäudes. Eine halbe Stunde später erschien der Kronprinz abermals auf der Bildfläche – in Kampfuniform und schwer bewaffnet. Kaltblütig soll er um sich geschossen und gezielt seinen Vater, König Birendra, seine Schwester, Prinzessin Shruti, seinen Bruder, Prinz Nirajan, seine Mutter, Königin Aishwarya, und vier weitere Angehörige getötet haben.

Acht Menschen starben direkt bei dem Mordanschlag. Einige Stunden später erlag auch Prinz Dhirendra, ein Bruder des Königs, seinen Verletzungen. Und: Dipendra hatte die Waffe am Ende mutmaßlich gegen sich selbst gerichtet. Er wurde schwer verletzt im Garten aufgefunden und starb drei Tage später, am 4. Juni 2001.

Auch ein Tatmotiv gab es: Der Thronfolger, so heißt es, wollte eine Frau heiraten, die aus einer rivalisierenden Familie stammte. Damit waren seine Eltern nicht einverstanden. Sie drohten ihm damit, dass er niemals König werden wird, sollte er sein Vorhaben umsetzen.

Soweit die offizielle Version. Nur dass sie hier in Nepal niemand so recht glauben will.

Nepals König wurde gottgleich verehrt

Bis heute stellt ein Großteil der Bevölkerung Tathergang und Täter in Frage. Die Hintergründe des Vorfalls wurden nie hinreichend aufgeklärt, diverse Ungereimtheiten nie aus der Welt geschafft. Das Massaker und seine Folgen haben das Vertrauen der Nepalesen in das Königshaus zerstört. Viele sind überzeugt, dass die Tragödie letztlich das endgültige Ende der Monarchie im Jahr 2008 herbeiführte.

Ein paar Kenntnisse sind wichtig, um die Zweifel der Menschen zu verstehen: König Birendra war ein ausgesprochen beliebter Monarch. Auch Kronprinz Dipendra kam gut an, er galt als freundlicher Gentleman. Traumatisch war der Königsmord für die Bevölkerung darüber hinaus auch deshalb, weil der König in Nepal als Inkarnation des Gottes Vishnu verehrt wurde.

Der neue König war äußerst unbeliebt

Da die Thronfolge es so vorsah, ernannte der Staatsrat einen Tag nach dem Massaker Dipendra zum neuen König – obwohl dieser im Koma lag und noch dazu dringend tatverdächtig war. Zum Regenten wurde Prinz Gyanendra erklärt, der Bruder des toten Königs. Dieser hatte sich zur Tatzeit in Pokhara, Nepals zweitgrößter Stadt, aufgehalten und war im Gegensatz zu Birendra äußerst unpopulär. Als Gyanendra nach Dipendras Tod auch noch den Thron bestieg, kam es zu heftigen Protesten auf den Straßen von Kathmandu. Innerhalb von vier Tagen hatte Nepal drei Könige – und am Ende einen, den niemand akzeptierte. Mit Gyanendras Krönung avancierte außerdem sein Sohn, Prinz Paras, zum nächsten Thronfolger. Prinz Paras war noch weniger beliebt als sein Vater und schon mehrfach in Drogendelikte und tödliche Autounfälle verwickelt gewesen.

Narayanhiti Palace: Der ehemalige Palast ist abgezäunt

Vor dem Narayanhiti Palace in Kathmandu steht ein Zaun

Statt Dipendra – niemand konnte sich vorstellen, dass er seine Familie kaltblütig umgebracht hat – vermuteten viele Nepalesen Gyanendra hinter dem Massaker. Sie fanden es verdächtig, dass die Mitglieder seiner eigenen Familie alle überlebt hatten oder sich gar nicht erst zum allwöchentlichen Familientreffen im Narayanhiti Palace eingefunden hatten. Ebenso hartnäckig halten sich bis heute Verschwörungstheorien, nach denen die USA oder Indien ihre Finger bei dem Anschlag mit im Spiel hatten.

 Königsmord mit Ungereimtheiten

Bevor ich nach Kathmandu zog, hatte ich von dem Massenmord im nepalesischen Königshaus zwar gehört, mich aber nie näher mit ihm beschäftigt. Dann stieß ich auf „Forget Kathmandu“, ein Buch über die bewegte Geschichte Nepals und das Ringen des kleinen Landes um Demokratie.

Buch Forget Kathmandu

Cover von Manjushree Thapas Buch „Forget Kathmandu“

Autorin Manjushree Thapa, die sich damals in Kathmandu aufhielt, erzählt darin auch, wie die nepalesische Bevölkerung die Stunden und Tage nach dem Massaker erlebte. Denkwürdig sind vor allem folgende Fakten:

  • In der Nacht zum 2. Juni 2001 machte die schockierende Nachricht die Runde. Am nächsten Morgen gab es jedoch keinerlei inländische Berichterstattung. Nepalesische Zeitungen erschienen nicht, private Radiostationen gingen nicht auf Sendung, staatliche Radiosender spielten nur Trauermusik. Der TV-Sender Nepal Television zeigte nur Bilder vom Pashupati-Tempel, der heiligsten Stätte für Hindus in Kathmandu. Wer konnte, informierte sich bei BBC, CNN und anderen ausländischen Kanälen. Die Übertragung wurde jedoch abgebrochen, sobald erwähnt wurde, dass die nepalesische Bevölkerung die Täterschaft des Kronprinzen anzweifelte. Verwandte und Freunde hielten einander per Telefon auf dem Laufenden.
  • Das Staatsbegräbnis der Königsfamilie, also die Kremation nach Hindu-Tradition am Pashupati-Tempel, wurde nur 18 Stunden nach dem Massaker vorgenommen – ohne dass man die Leichen obduziert hatte.
  • Nach seinem Tod wurde Dipendra mit derselben Eile am Ufer des Bagmati-Flusses verbrannt. Auch seinen Leichnam hatte man nicht genauer untersuchen lassen.
  • Die Krönung des neuen Königs Gyanendra wurde im Geheimen vorbereitet und die Öffentlichkeit erst eine Stunde vor der Zeremonie darüber informiert.
  • Es gab mehrere Angebote aus dem Ausland, den Fall von Experten forensisch prüfen zu lassen. Die nepalesische Regierung lehnte alle ab.
  • Der neue König hatte in seiner ersten Ansprache als Regent zunächst behauptet, es habe sich um einen Unfall gehandelt: eine automatische Waffe sei versehentlich von allein losgegangen.
  • Nach seiner Krönung beauftragte Gyanendra in Absprache mit dem damaligen Premierminister ein dreiköpfiges Komitee zur Untersuchung des Massenmordes, das binnen drei Tagen Bericht erstatten sollte. Ein Mitglied des Komitees sprang noch vor Beginn ab. Übrig blieben der Parlamentssprecher und der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofs.
  • Politiker wandten sich bald an die Öffentlichkeit mit der Forderung, sich hinter den neuen König zu stellen. Es gab Festnahmen von Personen, die vermeintlich gegen die nationale Sicherheit agierten – unter anderem Straßenhändler, die Fotos von Birendra und Dipendra verkauften.
  • Eine Woche nach dem Massaker meldete sich der erste Augenzeuge in einer Pressekonferenz zu Wort. Der Militär-Arzt Dr. Rajiv Raj Shahi, Schwiegersohn des getöteten Dhirendra, erklärte mithilfe einer Zeichnung des Tatorts an einer Tafel die Geschehnisse, reagierte aber unwirsch auf die Nachfragen der anwesenden Journalist:innen.
  • Die Räume, in denen das Massaker sich ereignete, wurde einige Monate nach den Geschehnissen auf Anweisung des neuen Königs leergeräumt und niedergerissen, angeblich weil ihr Anblick die Königinmutter Rana so schmerzte.
  • Zwei Wochen nach dem Massenmord trug das vom König beauftragte Untersuchungskomitee seine Ergebnisse vor. Demnach war Dipendra sturzbetrunken, als man ihn in seine Gemächer brachte. Er habe wenig später am Boden gelegen, unfähig, sich sein Hemd auszuziehen. Später habe eine Angestellte gehört, wie er sich übergab. Weiter hieß es in ihrem Bericht, Dipendra habe eine Schusswunde in der linken Schläfe gehabt. Außerdem habe er am Tatabend telefonisch Joints bestellt, die mit einer nicht näher benannten schwarzen Substanz gefüllt gewesen seien. Die Joints seien zum Palast geliefert worden, Prinz Paras, der Sohn von Gyanendra, habe sie entgegengenommen und sie dem Kronprinzen gebracht.

Der offizielle Untersuchungsbericht warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Wie konnte der Prinz gezielt auf Personen schießen, wenn er doch völlig betrunken war? Wie konnte er in diesem Zustand seine Kampfmontur anlegen, wie sich allein die Schuhe zubinden, wenn er doch Minuten zuvor nicht mal in der Lage war, sich sein Hemd auszuziehen? Warum wurde nicht mittels Blutuntersuchung geklärt, ob er während der Tat unter Drogeneinfluss stand? Warum wurde Prinz Paras nie gefragt, ob er tatsächlich Joints zum Kronprinzen gebracht hatte? Und warum hatte Dipendra eine Schusswunde an der linken Schläfe, wenn er doch Rechtshänder war?

Die nepalesische Bevölerkung schwankte. War das Massaker etwa ein perfider Putsch und Gyanendra der Drahtzieher? War es wirklich möglich, dass der ungeliebte neue König skrupellos Angehörige töten lassen und die Überlebenden derart manipulieren konnte? Als machtgeil galt der jüngere Bruder Birendras in jedem Fall. Bezeichnend, dass er seinen Namen nach seiner Krönung um den Titel „Dev“ („Gott“) erweiterte und sich keine vier Jahre später zum alleinigen Herrscher erklärte.

Oder hatte tatsächlich Dipendra gemordet? War der Öffentlichkeit schlichtweg entgangen, dass der Kronprinz massive psychische Probleme und in Wahrheit ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern hatte? Immerhin soll er ein Waffennarr gewesen sein und seine Schwester Shruti bei einer Auseinandersetzung geschlagen haben. Er soll außerdem als Kind elterliche Liebe vermisst, sich auffällig verhalten, früh getrunken und Tiere misshandelt haben. Er soll sich ferner genau vergewissert haben, wer dem Freitagsdinner beiwohnen wird. Für diese Vorfälle und für seine Täterschaft bei dem Massaker gibt es Zeugen. Mehrere Augenzeugen glauben außerdem, Dipendra habe seine Trunkenheit nur gespielt.

 Ein Besuch im Narayanhiti Palace Museum

Den Ort des Geschehens, den Narayanhiti Palace, kann man besichtigen. 2009, ein Jahr nach der endgültigen Abschaffung der Monarchie in Nepal, wurde der ehemalige Königspalast am Ende der Prachtstraße Durbar Marg als „Narayanhiti Palace Museum“ eröffnet. Vor einigen Wochen habe ich ihn mir angesehen.

Eintrittskarten für das Narayanhiti Palace Museum, wo früher der König von Nepal lebte

Nepalesische Gäste zahlen 100 Rupien, ausländische Besucher:innen 500 Rupien

Fotografieren ist auf dem gesamten Gelände verboten. Man muss seine Tasche samt Kamera und Telefon abgeben, bevor man den mit einem Metallgitter umzäunten Bereich betreten kann.

[Der Palast mit seinem auffälligen Turm und den lachsfarbenen Außenwänden wurde 1969 eingeweiht. Wer ihn betritt, hat das Gefühl, an der Einrichtung ist seit seiner Fertigstellung nichts verändert worden. An den Wänden hängen Gemälde der früheren Monarchen und Fotos des Königspaars mit anderen Staatsoberhäuptern. 
Narayanhiti Palace Kathmandu

Für den Besuch des ehemaligen Wohnortes von Nepals Königsfamilie gibt es Regeln

Von 52 Räumen sind 19 zugänglich, unter ihnen die Gästezimmer für den ausländischen Staatsbesuch, verschiedene Tee- und Esszimmer, Empfangsräume, der Thronsaal, das Büro des Königs und das Schlafzimmer des Königspaares. Die Zimmer prägt eine Mischung aus viktorianischem Stil und 70-er-Jahre-Retro-Chic. Während sich über den ein oder anderen Einrichtungsgegenstand streiten lässt, finden die meisten Besucher:innen die ausgestopfte Tiere, die überall liegen, stehen und hängen – Tiger, Nashörner, ein Krokodil – vermutlich genau so geschmacklos wie ich.

Nepal: Eingangshalle im ehemaliger Königspalast

Eingangshalle im ehemaligen Königspalast, vom Museums-Flyer abfotografiert. Links und rechts von der Treppe hintem im Raum stehen zwei ausgestopfte Tiger

Während der Runde durch die eher dunklen Gänge und Zimmer wunderte ich mich, warum nirgends auf das Massaker hingewiesen wird. Will man es hier einfach totschweigen? Erst später verstand ich: Die Tat ereignete sich in einem Nebengebäude namens „Tribhuvan Sadan“. Wenn man das Hauptgebäude nach dem Rundgang verlässt, ist der genaue Tatort auch ausgeschildert.

Auch am Tatort fehlt es an Erklärungen

Am Tribhuvan Sadan kann man noch durch die Scheiben in den ehemaligen, längst leergeräumten Billardsaals schauen, in dem die ersten Schüsse fielen. Draußen markieren Schilder die Stellen, an denen weitere Familienangehörige starben. An einem Gebäude sind  Einschusslöcher zu sehen, ein weiteres Schild weist auf sie hin. Eine detaillierte Erläuterung, was sich hier zugetragen hat, irgendetwas, das die Tat und seine Folgen auch denjenigen Besuchern erklärt, die sich vorher nicht intensiv mit der Geschichte Nepals beschäftigt haben, sucht man hier allerdings vergeblich.

Flyer vom Narayanhiti Palace Museum, dem ehemaligen Königspalast

Flyer vom Narayanhiti Palace Museum, dem ehemaligen Königspalast in Kathmandu

Eine glaubwürdige, ausführliche Aufarbeitung hat aber auch die nepalesische Bevölkerung nie bekommen. Bis heute ist für viele nur eines gewiss: Dass ungewiss ist, was in der Nacht vom 1. Juni 2001 wirklich im Narayanhiti Palace geschah. Die Autorin Manjushree Thapa formuliert es so: „Wir haben die Wahrheit verloren, wir haben unsere Geschichte verloren. Uns bleibt nur, Anekdoten und Geschichten nachzuerzählen und uns mit einem Mythos zu begnügen.“

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6 Comments
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Christoph
8. Februar 2021 10:08

Wow, ich bin jetzt 45 und erinnere mich nur dunkel, dass da “irgendwann mal was war”.
So detailliert erzählt wirft die ganze Geschichte tatsächlich nur mehr Fragen auf als sie irgendwie beantwortet. Wie steht das Volk mittlerweile zum aktuellen König?

Christoph
9. Februar 2021 10:21
Reply to  Susanne

Vielen Dank für deine Antwort. Das die Monarchie abgeschafft wurde hätte ich tatsächlich sehen können, entschuldige.
hast du schon bemerkt dass irgendwas mit deinen Mails nicht stimmt?
die Benachrichtigung über deine Antwort hier war das hier:

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30. April 2023 11:15

Hallo Susanne Passend zu Deinem Beitrag war ich heute mal wieder dort. Zum ersten Mal hatte ich den Palast 2010 besucht und bis auf das Nebengebäude, in dem damals Birendra, als er noch Kronprinz war lebte, hat dich seid dem nichts viel verändert.  Noch immer dunkle Räume die für mich sehr ungemütlich wirken. Von Prunk jetzt mal abgesehen.  Erklärungen findet man leider immer noch sehr wenige und wie Du schon schriebst, ist an den Plätzen des Massakers kaum eine Erklärung.  Nur Schilder die beschreiben wer an welchem Ort gerötet / angeschossen wurde.  Und da bin ich beim Thema.  Ich lebe lange… Read more »